Die Weltenforscherin
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Die Weltenforscherin
So, ich geb euch hier mal die anderthalb Kapitel meiner begonnenen Geschichte, wie bereits hier erwähnt: Ähnlichkeiten
Da es aber doch recht lang ist, 33 A4-Seiten in Word, teile ich es erst mal etwas ein. Wenigstens habe ich in dieser Geschichte viele Absätze gemacht (Vielleicht sogar zu viele...)
Viel Spaß
PS: Leider hat das Internet meine Formatierungen gelöscht, sprich Tabs und kursive Wörter (Gedanken, Betonungen). Hoffe, man kann es trotzdem gut lesen.
Zuerst einmal die Einleitung (vor kurzem überarbeitet und aktualisiert ):
Die Weltenforscherin
Es gibt nur sehr wenige Weltenteiler. Tatsächlich glaubt Lyah, sie wäre die einzige, denn sie ist noch nie einem anderen begegnet...
Vor wenigen Jahren noch arbeitete sie als Historikerin in der Bibliothek des Trinity College in Dublin. Eines Tages entdeckte sie versteckte Dokumente, Aufzeichnungen eines unbekannten Verfassers, festgehalten auf Disketten, CDs, Pergamentrollen. Dieser Verfasser erzählte von Reisen in andere Welten und seine Schilderungen erinnerten Lyah an ihre Kindheit.
Mit ihren Geschwistern Luca und Leo und ihrer besten Freundin Jenna spielte sie immer ein besonderes Spiel: Lyah teilte den Schleier zwischen den Welten und gemeinsam übertraten sie die Schwelle. Aber jedes Mal, wenn sie in ihre Welt zurückkehrten, verblassten die Erinnerungen an ihre Abenteuer, so dass sie nie mehr waren als bloße Kindheits-Fantasien.
Nach der Entdeckung dieser Aufzeichnungen versuchte Lyah zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren, wieder den Schleier zu teilen – und es gelang! Seitdem erforscht sie immer wieder die Welten von Mittelerde, Kyralia und WeißWald, und viele andere.
Bis sie eines Tages einem Geheimnis auf die Spur kommt, das die Existenz all dieser Welten und ihrer eigenen gefährdet. Sie muss Jenna und ihre Brüder davon überzeugen, dass ihre früheren Reisen keine Fantasien gewesen waren, denn sie braucht ihre Hilfe bei der Rettung der Welten...
Und nun zum ersten Teil von Kapitel 1:
Auch den nächsten Bach nahm sie mit Leichtigkeit und nur beiläufig sah sie die Goldschwänze über dem Mohnfeld zu ihrer Linken tanzen. Sie lächelte und verkniff sich im selben Moment ein verärgertes Brummen, als sie plötzlich spürte, wie Erschöpfung in ihre Glieder trat. Lyah nahm ein letztes Mal Zugriff auf ihre Kraftreserven und sprintete voran.
Taumelnd ließ sie sich ins hohe Gras sinken, als sie endlich den alten Olivenbaum erreichte.
„In Ordnung... ich gebe auf...“, keuchte sie. „Ich werde dich niemals schlagen...“
Sie rollte auf den Rücken und schloss die Augen. Ihr Herz pochte wild und Lyahs Lächeln wuchs, als sie bei jedem Atemzug das Leben spürte, das durch ihren Körper strömte. Sie spürte jede Zelle pulsieren und während sie sich einfach gehen ließ, rann ihr eine Träne die Wange hinunter.
Lyah hörte die leisen Schritte der Stute, spürte ihren Atem auf ihrem Gesicht. Sie widerstand der Versuchung, ihr in die blauen Augen zu sehen, die sie mit Gewissheit gerade wieder musternd ansahen. Wie jedes Mal.
„Warum bist du immer so glücklich, wenn du hier bist?“
„Weil das Leben hier einfach viel unbeschwerter ist.“ Lyah hob die Lider und sah der Stute in die Augen. „Meine Welt ist so hektisch und chaotisch. Jeden Tag. Jede Stunde. Dort finde ich niemals die Ruhe und Gelassenheit wie hier. Und sie ist längst nicht so schön.“
Die Stute neigte kurz den Kopf und trat dann aus Lyahs Blickfeld.
„Du wolltest etwas Schönes sehen, das du hier noch nicht gesehen hast. Komm her, sonst verpasst du es.“
Eigentlich wollte sich Lyah nicht bewegen, nie wieder, aber sie hatte ja Recht.
Sie kroch das letzte Stück auf dem Bauch und verharrte direkt neben den weißen, schlanken und zarten Beinen der Stute. Ihre Hände glitten über das feuchte Gras, bis sie das kühle Gestein unter ihren Fingerspitzen spüren konnte. Sie zog sich näher heran und blickte über die Felskante.
Tief unter ihr, mehr als hundert Meter, erstreckte sich eine Ebene, so weit bis zum Horizont und gefüllt mit dichten, saftiggrünen Baumkronen und ihren Blüten, von Gelb über Rot bis Violett und Blau. Der Fluss bahnte sich seinen Jahrtausende alten Weg durch das Dickicht, beschleunigte in einem reißenden Strom und erreichte schließlich die Klippe, wo er in die Tiefe stürzte und in der Wildnis verschwand. Weit dahinter konnte Lyah die Steppe erkennen und das Gebirge als schmalen Strich.
Sie seufzte. „Warum kann ich nicht für immer hier bleiben, Farúnya?“
Die Stute stieß mit ihrer Nase sanft gegen ihren Kopf. „Du weißt, warum.“
„Ich würde dieser Welt niemals überdrüssig werden. Das könnte ich nicht.“ Sie sah nach oben und ihr Blick streifte das weiße Horn auf der Stirn der Stute. „Das ist unmöglich.“
„Du weißt, dass nichts unmöglich ist“, erwiderte Farúnya. „Pass auf, gleich ist es soweit.“
Lyah sah wieder in das Tal hinab, doch fast sofort erkannte sie, dass das zu tief war. Sie musste zum Horizont sehen. Dort, wo die Berge waren.
Ein Glitzern erschien über dem höchsten Gipfel des Gebirges und Lyah kniff kurz die Augen zusammen. Der Stern stieg höher; sein Glitzern verebbte und eine orangegelbe Sichel erschien an seiner Stelle. Der Mond, der gleich daneben stand und etwa dreimal größer war als der Mond, den Lyah kannte, verblasste, während sich der Himmel weiter erhellte. Zugleich wurde er auch dunkler.
Lyah sah über die Schulter. Die Sonne war schon zur Hälfte im Ozean versunken und stetig nahm sie das Tageslicht mit sich. Dann sah sie wieder zum Gebirge. Auch die zweite Sonne blickte zur Hälfte über dem Gebirge hervor, doch dieser Feuerball stieg beständig weiter, während der andere versank.
Die gesamte Landschaft um Lyah herum war ein einziges Farbenspiel; jede Blüte, jeder Grashalm wechselte seine Farbe von Sekunde zu Sekunde und die schneebedeckten Gipfel der Berge begannen zu leuchten.
„Es ist... wundervoll...“, flüsterte Lyah ergriffen.
„Nur einmal in fünfhundert Jahren treffen sich beide Sonnen gleichzeitig“, erklärte Farúnya. „Für drei ganze Wochen wird es nicht dunkel.“
Lyah lächelte. Vergnügt beobachtete sie die beiden Goldschwänze, die sich spielerisch über die Felskante hinaus jagten.
Plötzlich durchbrach ein schriller Ton die Idylle.
Lyah zuckte zusammen, dann stöhnte sie enttäuscht auf. Sie griff an die Gesäßtasche ihrer Jeans.
„Was ist das?“, fragte Farúnya.
„Mein Handy. Es funktioniert hier zwar nicht vollständig, aber ich hab es als Wecker mitgenommen.“
„Wecker?“
„Damit ich nicht schon wieder die Zeit verpasse. Wenn ich zu lange hier bleibe, werde ich noch vermisst.“ Seufzend stand Lyah auf. „Ich muss gehen, Farúnya. Aber ich verspreche, ich komme bald wieder.“
Die Stute stellte die Ohren auf und sah sie aufmerksam an. „Du bist hier jederzeit willkommen, Weltenteilerin. Eine gute Reise.“
Lyah lächelte zum Abschied, dann wandte sie sich mit dem Rücken zum Abgrund. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf einen bestimmten Punkt in ihrem Inneren. Sie griff danach, umfasste das gleißende Licht mit ihrem Geist und teilte es.
Farúnya beobachtete die Menschenfrau neugierig. Dann erschien direkt vor ihr ein leuchtender, senkrechter Strich und sanfter Nebel trat heraus. Lyah trat einen Schritt nach vorne und verschwand.
Sie hielt die Augen geschlossen. Sie wollte das Bild festhalten. Das Spiel der Sonnen. Den Tanz der Goldschwänze. Farúnya.
Sie seufzte enttäuscht, als ihre Welt langsam wieder Besitz von ihren Sinnen ergriff. Sie vernahm den modrigen und uringetränkten Geruch der alten Brücke, unter der sie gestanden hatte, als sie aufgebrochen war. Vor so vielen und doch zu wenigen Stunden. Der Lärm des nahen Verkehrs erfasste ihr Gehör und verbannte das friedliche Zwitschern der Vögel und das leise Gurgeln der Bäche, das Rauschen des Flusses.
Lyah öffnete widerwillig die Augen und sah sofort die Hochhäuser der Stadt. Sie gestattete sich einen weiteren tiefen Seufzer, dann stieg sie den Hügel zur Brücke rauf. Der Smog hing heute wieder tief und sie verzog das Gesicht. Leichte Übelkeit stieg in ihr auf. In keiner anderen Welt, in der sie je gewesen war, war die Luft so unrein und widerlich wie in ihrer.
Nein, das stimmt nicht, dachte Lyah fast erleichtert und erinnerte sich an einen bestimmten Ausflug, an eine Welt, in der es fast unmöglich gewesen war, ohne Sauerstoffmaske zu atmen.
Sie war kaum ein paar Schritte gegangen, als ihr Handy klingelte. Bevor sie ranging, sah sie, dass Leo sie schon fünfmal angerufen hatte. Und nun ein sechstes Mal.
Sie rollte mit den Augen und ging ran. „Hey, Leo.“
„Lyah! Wo steckst du? Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen.“
„Tut mir Leid, ich war... ziemlich müde und hatte mein Telefon abgestellt.“
„Lüg doch nicht.“ Sie verzog das Gesicht, als sie hörte, dass er sauer war. „Ich war bei deiner Wohnung. Oder hast du etwa auch die Klingel abgestellt?!“
Sie unterdrückte ein genervtes Stöhnen. „Ich war nicht zu Hause... Was ist denn überhaupt los?“
„Luca hatte einen Unfall.“
„Was?! Ist es schlimm? Wo ist er?“
„Wir sind im St. Katherine’s. Und nein, es ist nicht schlimm. Ich hatte... Ich hatte mir nur Sorgen gemacht, als du nicht ran bist.“
Lyah lächelte. Wenn Leo sauer war, verflog das für gewöhnlich wieder sehr schnell.
„Ich bin gleich da“, sagte sie und legte auf, bevor Leo die Möglichkeit hatte, es ihr auszureden.
Keine zwanzig Minuten später stand sie in der Notaufnahme des St. Katherine’s, hatte die Arme verschränkt und sah ihren Bruder tadelnd an.
„Was hast du diesmal wieder angestellt, Luca?“
Er zuckte die Schultern. „Nichts Besonderes. Es war nur ein kleiner Trip...“
„Ha!“, machte Leo. „Ein kleiner Trip, allerdings. Ein Trip über Dublins Dächer.“
„Wie meinst du das?“ Lyah sah zuerst ihn entsetzt an, dann Luca. „Wie meint er das?“
„Na ja...“
„Sag’s ihr schon. Ich werde es bestimmt nicht tun.“
„Bnmtdmbkbrddchrgfhrn“, murmelte Luca kaum hörbar.
„In meiner Sprache, Luca! Und verständlich!“
Er zog den Kopf ein und kniff die Augen zusammen. „Bin mit dem Bike über die Dächer gefahren!“
Stille.
Nur das Piepen der Geräte und Instrumente war zu hören, und einige Schwestern und Patienten in ihrer Nähe.
Luca blinzelte überrascht; er hatte ein Donnerwetter erwartet, sowie ein...
„WAS HAST DU?!“
Für die nächsten paar Minuten hielt Lyah Luca eine ordentliche Predigt, die hin und wieder Wörter enthielt, von der Leo stets gedacht hatte, dass sie im Wortschatz seiner Schwester gar nicht erst existieren würden. Breit grinsend und die Arme vor der Brust verschränkt lehnte er einige Schritte entfernt am Pult der Schwesternstation. Schwester Margrit, die einzige, die gerade keinen Patienten hatte, saß stocksteif auf ihrem Stuhl.
„Wollen Sie Ihre Schwester nicht wenigstens ein bisschen zügeln?“, fragte sie besorgt.
Leo zuckte die Schultern. „Wozu? Er hat es doch verdient.“
„Ja, aber... Oh!“
Lyah hatte Luca gerade wütend auf seinen Fuß geschlagen, der eine halbe Stunde zuvor erst verbunden worden war. Luca jammerte kurz auf; Lyah wandte sich um und marschierte Richtung Ausgang.
„Was soll das?“, rief Luca ihr hinterher. „Ich bin älter als du!“
„Ja!“, rief Lyah über die Schulter hinweg zurück. „Drei Minuten!“
Leo kicherte.
„Aber immerhin“, murmelte Luca leicht sauer, aber trotzdem mit einem schuldbewussten Ausdruck auf dem Gesicht.
„Er ist solch ein Idiot!“
„Beruhige dich doch, Lyah.“
„Ich kann mich nicht beruhigen. Ich will mich nicht beruhigen! Anstatt sich einen vernünftigen Job zu besorgen, verbringt er beinahe jeden Tag damit, sich in Lebensgefahr zu bringen! Ich verstehe ihn einfach nicht!“
Lyah lief weiterhin auf und ab. Das Gras war bereits in Eiform platt getreten.
Wenige Schritte entfernt lag Farúnya dicht am Seeufer.
„Warum hat er nur solche Todessehnsucht?“
„Das hat er nicht“, erwiderte die Stute gelassen.
„Aber was ist dann mit ihm los?“ Lyah ließ sich ins Gras fallen und stützte das Kinn auf ihre Knie. „Will er Leo und mir weh tun? Aber weshalb? Wir verstehen uns doch so gut, bisher jedenfalls. Wir haben doch nur uns...“
Farúnya spitzte die Ohren, als sie den Bruch in Lyahs Stimme vernahm.
„Er langweilt sich“, sagte sie. „Er hat noch keine Aufgabe gefunden, die sein Leben ausfüllt. Deshalb sucht er stets – wie sagst du immer? – den großen Kick. Ich denke, er braucht einfach eine Bestätigung, dass er noch am Leben ist.“
Lyah sah auf. „Er hat schon so viele Jobs gehabt, hat so viele Dinge ausprobiert. Aber nie war er mit irgendwas davon zufrieden, nicht mal ansatzweise. Er ist ein Porker.“
„Lyah...“
„Entschuldige... Natürlich ist er das nicht. Aber ich weiß nicht mehr weiter.“
Mit einem eleganten Schwung stand Farúnya auf und schritt ins Wasser, um zu trinken. Dann stieß sie die Nase tiefer hinein und zog etwas grünes Längliches mit den Zähnen heraus. Sie warf den Kopf zur Seite und es klatschte Lyah auf den nackten Arm. Wie eine giftgrüne Schlange lag es auf ihrer Haut.
Lyah stieß einen kurzen Schrei aus und sprang auf, schüttelte es von ihrem Arm.
„Farúnya! Du bist gemein! Du weißt genau, ich kann dieses Zeug nicht ausstehen!“
Die Stute machte ein Geräusch, das wie ein Kichern klang, und sie kam näher. Doch anstatt stehen zu bleiben, trottete sie an Lyah vorbei. Sie folgte ihr.
„Wie du mir erzählt hast“, begann Farúnya, „ist Leo der Führer eines kleinen Werksbetriebs. Er sagt anderen Menschen, was sie tun sollen, und dies wiederum bringt nochmals anderen Menschen eine Dienstleistung. Er hat seine Lebensaufgabe gefunden. Du bist Historikerin in einer großen und bedeutenden Bibliothek, du hütest die Schätze der Zeit, das Erbe der Menschen. Auch du hast deine Lebensaufgabe gefunden.“
Lyah schnaubte. „Na ja, wie man es will...“, murmelte sie leise.
Farúnya wandte sich zu ihr um. „Heißt das, du bist nicht glücklich mit deiner Aufgabe?“
Lyah wirkte unschlüssig. „Das soll nicht heißen, dass ich... nicht glücklich wäre, es ist nur... Die Arbeit in der Bibliothek macht mir großen Spaß, aber sie füllt mich nicht aus. Es ist eher so, dass ich... nun ja... Seit ich durch die vielen verborgenen Welten reise... Das macht mich glücklich und stimmt mich zugleich auch zufrieden.“
Farúnya nickte verstehend. „Du besitzt die seltene Gabe, den Schleier, der eine Welt vor der anderen verbirgt, zu teilen und hindurch zu schreiten. Es wäre nicht verkehrt, davon auszugehen, dass diese Gabe auch dein Schicksal bestimmt, deine eigentliche Lebensaufgabe mit sich bringt. Vielleicht trifft dies auch auf Luca zu.“
„Er kann den Schleier aber nicht teilen.“
„Habt ihr es jemals probiert?“
„Als wir Kinder waren.“
Farúnya blieb stehen und sah sie durchdringend an. Ihr Horn glitzerte im Sonnenlicht. „Ihr seid keine Kinder mehr, Lyah, ihr seid erwachsen. Deine Kräfte sind stärker geworden seit deiner Kindheit. Vielleicht trug dein Bruder schon immer die Gabe in sich, nur nicht so stark, als dass er sie als Junge hätte einsetzen können. Und vielleicht ist im Verlauf der Jahre auch seine Gabe stärker geworden. Ich denke, es ist an der Zeit, dass Luca wieder erfährt, was du kannst, Lyah, und dass ihr gemeinsam herausfindet, ob er nicht auch diese Gabe besitzt. Und Leo ebenfalls.“
Lyah sah sie nachdenklich an. „Ich weiß nicht... Es wäre möglich, dass Luca mir glaubt, wenn ich es ihm erzähle, aber Leo?“
„Warum erzählen? Zeig es ihnen.“
Ein schrilles Wiehern erklang aus der Ferne, irgendwo aus den Tiefen des Waldes.
„Wer war das?“, fragte Lyah.
Farúnya sah in die Richtung. „Das war Ranjek. Es ist soweit. Ich muss dich nun verlassen.“
„Was ist soweit?“
„Der Zeitpunkt der Vereinigung.“
„Welche Vereinigung? Was ist das?“
Farúnya wandte den Kopf zur Menschenfrau und sah sie liebevoll aus ihren blauen Augen an. „Du wirst es erfahren, wenn wir uns wieder sehen.“
Wieder erklang das Wiehern, diesmal näher, und Farúnya antwortete. Dann galoppierte sie los und verschwand zwischen den Jahrhunderte alten Bäumen.
Lyah sah ihr verdutzt nach. Was war los? So hatte die Stute sie noch nie verabschiedet.
Da es aber doch recht lang ist, 33 A4-Seiten in Word, teile ich es erst mal etwas ein. Wenigstens habe ich in dieser Geschichte viele Absätze gemacht (Vielleicht sogar zu viele...)
Viel Spaß
PS: Leider hat das Internet meine Formatierungen gelöscht, sprich Tabs und kursive Wörter (Gedanken, Betonungen). Hoffe, man kann es trotzdem gut lesen.
***
Zuerst einmal die Einleitung (vor kurzem überarbeitet und aktualisiert ):
Die Weltenforscherin
Es gibt nur sehr wenige Weltenteiler. Tatsächlich glaubt Lyah, sie wäre die einzige, denn sie ist noch nie einem anderen begegnet...
Vor wenigen Jahren noch arbeitete sie als Historikerin in der Bibliothek des Trinity College in Dublin. Eines Tages entdeckte sie versteckte Dokumente, Aufzeichnungen eines unbekannten Verfassers, festgehalten auf Disketten, CDs, Pergamentrollen. Dieser Verfasser erzählte von Reisen in andere Welten und seine Schilderungen erinnerten Lyah an ihre Kindheit.
Mit ihren Geschwistern Luca und Leo und ihrer besten Freundin Jenna spielte sie immer ein besonderes Spiel: Lyah teilte den Schleier zwischen den Welten und gemeinsam übertraten sie die Schwelle. Aber jedes Mal, wenn sie in ihre Welt zurückkehrten, verblassten die Erinnerungen an ihre Abenteuer, so dass sie nie mehr waren als bloße Kindheits-Fantasien.
Nach der Entdeckung dieser Aufzeichnungen versuchte Lyah zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren, wieder den Schleier zu teilen – und es gelang! Seitdem erforscht sie immer wieder die Welten von Mittelerde, Kyralia und WeißWald, und viele andere.
Bis sie eines Tages einem Geheimnis auf die Spur kommt, das die Existenz all dieser Welten und ihrer eigenen gefährdet. Sie muss Jenna und ihre Brüder davon überzeugen, dass ihre früheren Reisen keine Fantasien gewesen waren, denn sie braucht ihre Hilfe bei der Rettung der Welten...
***
Und nun zum ersten Teil von Kapitel 1:
„Farúnya“
Eine sanfte Brise kühlte die Wärme der Sonne. Noch waren die Wassertropfen auf den Halmen nicht vollständig verdunstet. Sie holte noch einmal tief Luft, spannte die Muskeln und setzte zum Sprung an. Leichtfüßig landete Lyah im feuchten Gras am anderen Ufer des Baches. Sie gestattete sich eine kurze Verschnaufpause, doch kaum war sie stehen geblieben, sah sie schon das weiße Fell der Stute zwischen den Bäumen aufblitzen. Kopfschüttelnd lief Lyah hinter ihr her.Auch den nächsten Bach nahm sie mit Leichtigkeit und nur beiläufig sah sie die Goldschwänze über dem Mohnfeld zu ihrer Linken tanzen. Sie lächelte und verkniff sich im selben Moment ein verärgertes Brummen, als sie plötzlich spürte, wie Erschöpfung in ihre Glieder trat. Lyah nahm ein letztes Mal Zugriff auf ihre Kraftreserven und sprintete voran.
Taumelnd ließ sie sich ins hohe Gras sinken, als sie endlich den alten Olivenbaum erreichte.
„In Ordnung... ich gebe auf...“, keuchte sie. „Ich werde dich niemals schlagen...“
Sie rollte auf den Rücken und schloss die Augen. Ihr Herz pochte wild und Lyahs Lächeln wuchs, als sie bei jedem Atemzug das Leben spürte, das durch ihren Körper strömte. Sie spürte jede Zelle pulsieren und während sie sich einfach gehen ließ, rann ihr eine Träne die Wange hinunter.
Lyah hörte die leisen Schritte der Stute, spürte ihren Atem auf ihrem Gesicht. Sie widerstand der Versuchung, ihr in die blauen Augen zu sehen, die sie mit Gewissheit gerade wieder musternd ansahen. Wie jedes Mal.
„Warum bist du immer so glücklich, wenn du hier bist?“
„Weil das Leben hier einfach viel unbeschwerter ist.“ Lyah hob die Lider und sah der Stute in die Augen. „Meine Welt ist so hektisch und chaotisch. Jeden Tag. Jede Stunde. Dort finde ich niemals die Ruhe und Gelassenheit wie hier. Und sie ist längst nicht so schön.“
Die Stute neigte kurz den Kopf und trat dann aus Lyahs Blickfeld.
„Du wolltest etwas Schönes sehen, das du hier noch nicht gesehen hast. Komm her, sonst verpasst du es.“
Eigentlich wollte sich Lyah nicht bewegen, nie wieder, aber sie hatte ja Recht.
Sie kroch das letzte Stück auf dem Bauch und verharrte direkt neben den weißen, schlanken und zarten Beinen der Stute. Ihre Hände glitten über das feuchte Gras, bis sie das kühle Gestein unter ihren Fingerspitzen spüren konnte. Sie zog sich näher heran und blickte über die Felskante.
Tief unter ihr, mehr als hundert Meter, erstreckte sich eine Ebene, so weit bis zum Horizont und gefüllt mit dichten, saftiggrünen Baumkronen und ihren Blüten, von Gelb über Rot bis Violett und Blau. Der Fluss bahnte sich seinen Jahrtausende alten Weg durch das Dickicht, beschleunigte in einem reißenden Strom und erreichte schließlich die Klippe, wo er in die Tiefe stürzte und in der Wildnis verschwand. Weit dahinter konnte Lyah die Steppe erkennen und das Gebirge als schmalen Strich.
Sie seufzte. „Warum kann ich nicht für immer hier bleiben, Farúnya?“
Die Stute stieß mit ihrer Nase sanft gegen ihren Kopf. „Du weißt, warum.“
„Ich würde dieser Welt niemals überdrüssig werden. Das könnte ich nicht.“ Sie sah nach oben und ihr Blick streifte das weiße Horn auf der Stirn der Stute. „Das ist unmöglich.“
„Du weißt, dass nichts unmöglich ist“, erwiderte Farúnya. „Pass auf, gleich ist es soweit.“
Lyah sah wieder in das Tal hinab, doch fast sofort erkannte sie, dass das zu tief war. Sie musste zum Horizont sehen. Dort, wo die Berge waren.
Ein Glitzern erschien über dem höchsten Gipfel des Gebirges und Lyah kniff kurz die Augen zusammen. Der Stern stieg höher; sein Glitzern verebbte und eine orangegelbe Sichel erschien an seiner Stelle. Der Mond, der gleich daneben stand und etwa dreimal größer war als der Mond, den Lyah kannte, verblasste, während sich der Himmel weiter erhellte. Zugleich wurde er auch dunkler.
Lyah sah über die Schulter. Die Sonne war schon zur Hälfte im Ozean versunken und stetig nahm sie das Tageslicht mit sich. Dann sah sie wieder zum Gebirge. Auch die zweite Sonne blickte zur Hälfte über dem Gebirge hervor, doch dieser Feuerball stieg beständig weiter, während der andere versank.
Die gesamte Landschaft um Lyah herum war ein einziges Farbenspiel; jede Blüte, jeder Grashalm wechselte seine Farbe von Sekunde zu Sekunde und die schneebedeckten Gipfel der Berge begannen zu leuchten.
„Es ist... wundervoll...“, flüsterte Lyah ergriffen.
„Nur einmal in fünfhundert Jahren treffen sich beide Sonnen gleichzeitig“, erklärte Farúnya. „Für drei ganze Wochen wird es nicht dunkel.“
Lyah lächelte. Vergnügt beobachtete sie die beiden Goldschwänze, die sich spielerisch über die Felskante hinaus jagten.
Plötzlich durchbrach ein schriller Ton die Idylle.
Lyah zuckte zusammen, dann stöhnte sie enttäuscht auf. Sie griff an die Gesäßtasche ihrer Jeans.
„Was ist das?“, fragte Farúnya.
„Mein Handy. Es funktioniert hier zwar nicht vollständig, aber ich hab es als Wecker mitgenommen.“
„Wecker?“
„Damit ich nicht schon wieder die Zeit verpasse. Wenn ich zu lange hier bleibe, werde ich noch vermisst.“ Seufzend stand Lyah auf. „Ich muss gehen, Farúnya. Aber ich verspreche, ich komme bald wieder.“
Die Stute stellte die Ohren auf und sah sie aufmerksam an. „Du bist hier jederzeit willkommen, Weltenteilerin. Eine gute Reise.“
Lyah lächelte zum Abschied, dann wandte sie sich mit dem Rücken zum Abgrund. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf einen bestimmten Punkt in ihrem Inneren. Sie griff danach, umfasste das gleißende Licht mit ihrem Geist und teilte es.
Farúnya beobachtete die Menschenfrau neugierig. Dann erschien direkt vor ihr ein leuchtender, senkrechter Strich und sanfter Nebel trat heraus. Lyah trat einen Schritt nach vorne und verschwand.
Sie hielt die Augen geschlossen. Sie wollte das Bild festhalten. Das Spiel der Sonnen. Den Tanz der Goldschwänze. Farúnya.
Sie seufzte enttäuscht, als ihre Welt langsam wieder Besitz von ihren Sinnen ergriff. Sie vernahm den modrigen und uringetränkten Geruch der alten Brücke, unter der sie gestanden hatte, als sie aufgebrochen war. Vor so vielen und doch zu wenigen Stunden. Der Lärm des nahen Verkehrs erfasste ihr Gehör und verbannte das friedliche Zwitschern der Vögel und das leise Gurgeln der Bäche, das Rauschen des Flusses.
Lyah öffnete widerwillig die Augen und sah sofort die Hochhäuser der Stadt. Sie gestattete sich einen weiteren tiefen Seufzer, dann stieg sie den Hügel zur Brücke rauf. Der Smog hing heute wieder tief und sie verzog das Gesicht. Leichte Übelkeit stieg in ihr auf. In keiner anderen Welt, in der sie je gewesen war, war die Luft so unrein und widerlich wie in ihrer.
Nein, das stimmt nicht, dachte Lyah fast erleichtert und erinnerte sich an einen bestimmten Ausflug, an eine Welt, in der es fast unmöglich gewesen war, ohne Sauerstoffmaske zu atmen.
Sie war kaum ein paar Schritte gegangen, als ihr Handy klingelte. Bevor sie ranging, sah sie, dass Leo sie schon fünfmal angerufen hatte. Und nun ein sechstes Mal.
Sie rollte mit den Augen und ging ran. „Hey, Leo.“
„Lyah! Wo steckst du? Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen.“
„Tut mir Leid, ich war... ziemlich müde und hatte mein Telefon abgestellt.“
„Lüg doch nicht.“ Sie verzog das Gesicht, als sie hörte, dass er sauer war. „Ich war bei deiner Wohnung. Oder hast du etwa auch die Klingel abgestellt?!“
Sie unterdrückte ein genervtes Stöhnen. „Ich war nicht zu Hause... Was ist denn überhaupt los?“
„Luca hatte einen Unfall.“
„Was?! Ist es schlimm? Wo ist er?“
„Wir sind im St. Katherine’s. Und nein, es ist nicht schlimm. Ich hatte... Ich hatte mir nur Sorgen gemacht, als du nicht ran bist.“
Lyah lächelte. Wenn Leo sauer war, verflog das für gewöhnlich wieder sehr schnell.
„Ich bin gleich da“, sagte sie und legte auf, bevor Leo die Möglichkeit hatte, es ihr auszureden.
Keine zwanzig Minuten später stand sie in der Notaufnahme des St. Katherine’s, hatte die Arme verschränkt und sah ihren Bruder tadelnd an.
„Was hast du diesmal wieder angestellt, Luca?“
Er zuckte die Schultern. „Nichts Besonderes. Es war nur ein kleiner Trip...“
„Ha!“, machte Leo. „Ein kleiner Trip, allerdings. Ein Trip über Dublins Dächer.“
„Wie meinst du das?“ Lyah sah zuerst ihn entsetzt an, dann Luca. „Wie meint er das?“
„Na ja...“
„Sag’s ihr schon. Ich werde es bestimmt nicht tun.“
„Bnmtdmbkbrddchrgfhrn“, murmelte Luca kaum hörbar.
„In meiner Sprache, Luca! Und verständlich!“
Er zog den Kopf ein und kniff die Augen zusammen. „Bin mit dem Bike über die Dächer gefahren!“
Stille.
Nur das Piepen der Geräte und Instrumente war zu hören, und einige Schwestern und Patienten in ihrer Nähe.
Luca blinzelte überrascht; er hatte ein Donnerwetter erwartet, sowie ein...
„WAS HAST DU?!“
Für die nächsten paar Minuten hielt Lyah Luca eine ordentliche Predigt, die hin und wieder Wörter enthielt, von der Leo stets gedacht hatte, dass sie im Wortschatz seiner Schwester gar nicht erst existieren würden. Breit grinsend und die Arme vor der Brust verschränkt lehnte er einige Schritte entfernt am Pult der Schwesternstation. Schwester Margrit, die einzige, die gerade keinen Patienten hatte, saß stocksteif auf ihrem Stuhl.
„Wollen Sie Ihre Schwester nicht wenigstens ein bisschen zügeln?“, fragte sie besorgt.
Leo zuckte die Schultern. „Wozu? Er hat es doch verdient.“
„Ja, aber... Oh!“
Lyah hatte Luca gerade wütend auf seinen Fuß geschlagen, der eine halbe Stunde zuvor erst verbunden worden war. Luca jammerte kurz auf; Lyah wandte sich um und marschierte Richtung Ausgang.
„Was soll das?“, rief Luca ihr hinterher. „Ich bin älter als du!“
„Ja!“, rief Lyah über die Schulter hinweg zurück. „Drei Minuten!“
Leo kicherte.
„Aber immerhin“, murmelte Luca leicht sauer, aber trotzdem mit einem schuldbewussten Ausdruck auf dem Gesicht.
„Er ist solch ein Idiot!“
„Beruhige dich doch, Lyah.“
„Ich kann mich nicht beruhigen. Ich will mich nicht beruhigen! Anstatt sich einen vernünftigen Job zu besorgen, verbringt er beinahe jeden Tag damit, sich in Lebensgefahr zu bringen! Ich verstehe ihn einfach nicht!“
Lyah lief weiterhin auf und ab. Das Gras war bereits in Eiform platt getreten.
Wenige Schritte entfernt lag Farúnya dicht am Seeufer.
„Warum hat er nur solche Todessehnsucht?“
„Das hat er nicht“, erwiderte die Stute gelassen.
„Aber was ist dann mit ihm los?“ Lyah ließ sich ins Gras fallen und stützte das Kinn auf ihre Knie. „Will er Leo und mir weh tun? Aber weshalb? Wir verstehen uns doch so gut, bisher jedenfalls. Wir haben doch nur uns...“
Farúnya spitzte die Ohren, als sie den Bruch in Lyahs Stimme vernahm.
„Er langweilt sich“, sagte sie. „Er hat noch keine Aufgabe gefunden, die sein Leben ausfüllt. Deshalb sucht er stets – wie sagst du immer? – den großen Kick. Ich denke, er braucht einfach eine Bestätigung, dass er noch am Leben ist.“
Lyah sah auf. „Er hat schon so viele Jobs gehabt, hat so viele Dinge ausprobiert. Aber nie war er mit irgendwas davon zufrieden, nicht mal ansatzweise. Er ist ein Porker.“
„Lyah...“
„Entschuldige... Natürlich ist er das nicht. Aber ich weiß nicht mehr weiter.“
Mit einem eleganten Schwung stand Farúnya auf und schritt ins Wasser, um zu trinken. Dann stieß sie die Nase tiefer hinein und zog etwas grünes Längliches mit den Zähnen heraus. Sie warf den Kopf zur Seite und es klatschte Lyah auf den nackten Arm. Wie eine giftgrüne Schlange lag es auf ihrer Haut.
Lyah stieß einen kurzen Schrei aus und sprang auf, schüttelte es von ihrem Arm.
„Farúnya! Du bist gemein! Du weißt genau, ich kann dieses Zeug nicht ausstehen!“
Die Stute machte ein Geräusch, das wie ein Kichern klang, und sie kam näher. Doch anstatt stehen zu bleiben, trottete sie an Lyah vorbei. Sie folgte ihr.
„Wie du mir erzählt hast“, begann Farúnya, „ist Leo der Führer eines kleinen Werksbetriebs. Er sagt anderen Menschen, was sie tun sollen, und dies wiederum bringt nochmals anderen Menschen eine Dienstleistung. Er hat seine Lebensaufgabe gefunden. Du bist Historikerin in einer großen und bedeutenden Bibliothek, du hütest die Schätze der Zeit, das Erbe der Menschen. Auch du hast deine Lebensaufgabe gefunden.“
Lyah schnaubte. „Na ja, wie man es will...“, murmelte sie leise.
Farúnya wandte sich zu ihr um. „Heißt das, du bist nicht glücklich mit deiner Aufgabe?“
Lyah wirkte unschlüssig. „Das soll nicht heißen, dass ich... nicht glücklich wäre, es ist nur... Die Arbeit in der Bibliothek macht mir großen Spaß, aber sie füllt mich nicht aus. Es ist eher so, dass ich... nun ja... Seit ich durch die vielen verborgenen Welten reise... Das macht mich glücklich und stimmt mich zugleich auch zufrieden.“
Farúnya nickte verstehend. „Du besitzt die seltene Gabe, den Schleier, der eine Welt vor der anderen verbirgt, zu teilen und hindurch zu schreiten. Es wäre nicht verkehrt, davon auszugehen, dass diese Gabe auch dein Schicksal bestimmt, deine eigentliche Lebensaufgabe mit sich bringt. Vielleicht trifft dies auch auf Luca zu.“
„Er kann den Schleier aber nicht teilen.“
„Habt ihr es jemals probiert?“
„Als wir Kinder waren.“
Farúnya blieb stehen und sah sie durchdringend an. Ihr Horn glitzerte im Sonnenlicht. „Ihr seid keine Kinder mehr, Lyah, ihr seid erwachsen. Deine Kräfte sind stärker geworden seit deiner Kindheit. Vielleicht trug dein Bruder schon immer die Gabe in sich, nur nicht so stark, als dass er sie als Junge hätte einsetzen können. Und vielleicht ist im Verlauf der Jahre auch seine Gabe stärker geworden. Ich denke, es ist an der Zeit, dass Luca wieder erfährt, was du kannst, Lyah, und dass ihr gemeinsam herausfindet, ob er nicht auch diese Gabe besitzt. Und Leo ebenfalls.“
Lyah sah sie nachdenklich an. „Ich weiß nicht... Es wäre möglich, dass Luca mir glaubt, wenn ich es ihm erzähle, aber Leo?“
„Warum erzählen? Zeig es ihnen.“
Ein schrilles Wiehern erklang aus der Ferne, irgendwo aus den Tiefen des Waldes.
„Wer war das?“, fragte Lyah.
Farúnya sah in die Richtung. „Das war Ranjek. Es ist soweit. Ich muss dich nun verlassen.“
„Was ist soweit?“
„Der Zeitpunkt der Vereinigung.“
„Welche Vereinigung? Was ist das?“
Farúnya wandte den Kopf zur Menschenfrau und sah sie liebevoll aus ihren blauen Augen an. „Du wirst es erfahren, wenn wir uns wieder sehen.“
Wieder erklang das Wiehern, diesmal näher, und Farúnya antwortete. Dann galoppierte sie los und verschwand zwischen den Jahrhunderte alten Bäumen.
Lyah sah ihr verdutzt nach. Was war los? So hatte die Stute sie noch nie verabschiedet.
***
Lady Rhanya- Mentor
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Anmeldedatum : 14.09.11
Alter : 40
Ort : In einer kleinen Stadt in den Bergen im südlichen Elyne, zwei Tagesritte von Capia entfernt.
Re: Die Weltenforscherin
Auch hier stell ich die Texte erst mal stückchenweise rein - auch wenn der nachfolgende Text bereits der Rest von Kapitel 1 ist
Klappernd schwangen die Krücken um die Ecke und er presste den Finger auf die Klingel. Und ließ nicht los. Das durchgehende Schrillen drang durch die Tür, bis sie schließlich geöffnet wurde. Lyah schlug ihm auf die Finger, damit er endlich den Klingelknopf losließ. Dann sah sie ihn vorwurfsvoll an.
Luca grinste nur breit. Lyah schüttelte den Kopf und ging in ihre Wohnung zurück.
„Wie wär’s, wenn du ins Erdgeschoss umziehen würdest?“, fragte Luca, während er in die Diele humpelte und die Tür schloss. „Mit Krücken in den dritten Stock hüpfen und das ohne Aufzug... Das ist die reinste Folter.“
Lyah sah um die Ecke. „Da bist du selbst Schuld dran. Mehr brauch ich nicht dazu zu sagen.“
Er verzog nur das Gesicht und folgte ihr in die Küche.
„Hm, das duftet aber lecker. Was gibt’s denn?“
„Chinesisch – selbst bestellt, natürlich.“
„Oh, natürlich.“ Luca ließ sich auf einen der vier Stühle fallen. „Warum hast du so schick gedeckt? Eigentlich müsste ich mich doch bei dir entschuldigen...“
„Was auch noch aussteht, da du es gerade erwähnst.“ Lyah sah ihn erwartungsvoll an, aber Luca war sehr mit dem Muster des Holztisches beschäftigt. „Du solltest dich beeilen, Leo und Jen kommen gleich.“
„Jen kommt?“
„Nicht ablenken!“
Luca schürzte die Lippen und erkannte, dass seine übliche Taktik diesmal nichts bringen würde. Er stand auf, hopste einen großen Sprung auf seine Schwester zu und drückte sie fest an sich.
„Es tut mir ehrlich, ehrlich ganz dolle Leid, Lyah. Wie immer hast du natürlich Recht und ich war blöd und dumm. Bitte entschuldige.“ Er sah sie mit seinen rehbraunen Augen unschuldig an.
Lyah lächelte nachsichtig und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Du bist einfach unglaublich.“
„Ich weiß.“
„Unglaublich eingebildet“, fügte sie hinzu und ging wieder zum Herd.
„Ich weiß.“
„Trottel“, sagte sie leise.
„Ich weiß.“
Lyah wandte sich um. „Aha, ein Trottel mit unverschämt guten Ohren.“
Lucas Grinsen wuchs in die Breite. Entrüstet schleuderte Lyah ihm das Geschirr-Handtuch entgegen und verließ die Küche, als es klingelte. Luca hörte, dass Leo gekommen war. Unwillkürlich versteifte er sich, als er Jens Stimme erkannte.
„Oh mein Gott, Luca, was ist mit deinem Fuß passiert?“
Luca zuckte zusammen. Er wollte gerade antworten, als Jen direkt vor ihn trat. Sein Blick haftete sich fest an ihren langen rotbraunen Haaren, die als Pferdeschwanz über ihre linke Schulter hingen. Ihre blaugrünen Augen sahen ihn erschrocken an.
„Das willst du nicht wirklich wissen“, sagte Lyah.
„Doch, will ich.“
„Es genügt, wenn ich sage, dass er es verdient hat“, sagte Leo und setzte sich Luca gegenüber. Der warf seinem Bruder einen bösen Blick zu.
Jen erwiderte nichts dazu und setzte sich neben Leo.
Lyah stellte das Essen, das kurz vor Lucas Eintreffen von einem Kurier gebracht worden war, auf den Tisch und setzte sich ebenfalls dazu.
Mehr als drei Stunden vergingen, in denen sie aßen und sich fröhlich unterhielten und lachten und schließlich sogar einige Runden Mensch-ärger-dich-nicht, zum ersten Mal nach so vielen Jahren, spielten. Es war weit nach Mitternacht, als Lyah plötzlich einfiel, weshalb sie ihre beste Freundin und ihre Brüder eingeladen hatte. Sie schimpfte sich selbst, dass sie ihren Plan verdrängt hatte, nur aus Angst, dass sie ihr nicht glauben würden. Sie konnten sich nicht erinnern und gerade das machte es umso schwieriger.
Andererseits hatten sie einen sehr schönen Abend gehabt. Es war so viele Jahre, viel zu viele Jahre her gewesen, dass sie alle zusammen gesessen und Spaß gehabt hatten.
Jen drückte Lyah fest an sich. „Es war so schön, euch alle wieder zu sehen. Nun ja, Leo sehe ich fast jeden Tag, aber gerade wir zwei haben uns völlig aus den Augen verloren. Das ist so schade.“
„Ja, das ist es“, erwiderte Lyah. „Ab heute werden wir das ändern. Wir müssen uns öfter sehen, Jen. Wie früher.“
Jen nickte. „Und das werden wir auch. Auf jeden Fall.“ Sie folgte Leo zum Treppenabsatz und wandte sich noch einmal zu Luca um. „Wiedersehen... du Chaot.“
Luca grinste. „Wiedersehen, Jen. Und gute Nacht.“
„Soll ich dir nach unten helfen?“, fragte Lyah, als Luca sich in einer merkwürdigen Haltung übers Treppengeländer lehnte. Er sah Jen und Leo nach.
„Danke, aber die vier Stufen schaff ich auch so. Hat mir schon gereicht, allein Leos Vorschlag, mich zu tragen.“
Lyah lachte. „Du hättest sein Angebot annehmen sollen, schließlich wärst du fast gestürzt.“
„Ja, eben nur fast.“
Sie öffnete ihm die Tür des Taxis, das bereits seit zehn Minuten wartete. Bevor er einstieg, nickte er in die Richtung, in der Jen und Leo verschwunden waren.
„Wie lange geht das schon mit den beiden?“
Lyah verstand zunächst nicht. „Oh, du meinst Jen und Leo?“ Sie grinste. „Leo hat sie lediglich abgeholt, da ihre Wohnungen dicht beieinander liegen. Aber mehr ist da nicht; jedenfalls, nicht dass ich wüsste. Also sei unbesorgt, Luca, die beiden sind kein Paar.“
„Warum sollte ich deswegen besorgt sein?“, erwiderte er und stieg ein.
„Du brauchst es nicht leugnen, Brüderchen, ich habe heute Abend deutlich gesehen, dass deine alten Gefühle für Jen neu entflammt sind.“
Luca sah sie böse an. „Nach all den Jahren? Du spinnst doch!“
„Es sind nur fünf Jahre, in denen ihr euch nicht gesehen habt. Das muss nichts bedeuten.“
„Ja klar.“
Lyah grinste und schloss die Tür. Während das Taxi in der Dunkelheit verschwand, wusste sie plötzlich, dass es doch ganz gut gewesen war, ihnen noch nichts erzählt zu haben. Sie waren noch nicht bereit. Sie musste sie erst vorbereiten.
Es knackte und raschelte leise, als sie durch das Unterholz schritten. Farúnyas Hufe zerbrachen mit Leichtigkeit kleine Zweige und trockenes Laub. Lyah zog den Kopf ein, als ein Ast auf Augenhöhe vor ihr auftauchte. Das Gestrüpp und das Laubwerk wurden offener, mehr Sonnenstrahlen kamen hindurch und vertrieben die Düsternis des Waldes.
Farúnya nahm eine kleine Anhöhe und schon standen sie auf dem Nordfeld. Goldenes Getreide schimmerte ihnen entgegen. Die Stute nahm den kleinen Pfad nach links, der am Waldrand entlang zum See führte. Lyah entspannte sich, schloss die Augen und genoss die sanften Bewegungen Farúnyas.
Ihr Fell war so weich und zart. Lyah hatte sich zuerst gesträubt, aufzusteigen, aber die Stute hatte darauf bestanden. Es war das erste Mal, dass Lyah ohne Sattel ritt, und es war ein seltsames Gefühl. Aber schön. Und sie konnte sich Farúnya beim besten Willen nicht mit Sattel und Zaumzeug vorstellen. Das würde sie auch nicht zulassen. Niemals.
„Farúnya?“
„Ja?“
„Was ist denn jetzt diese Vereinigung, die vor einigen Tagen war?“
„Ich habe mich mit Ranjek vereinigt.“
Lyah runzelte die Stirn. „Das versteh ich nicht. Wer oder was ist Ranjek?“
„Ranjek ist der Führer der Rotfelle. Sie leben oben in den Bergen. Wir haben uns vereinigt, weil es die Tradition verlangte – und unsere Herzen.“
Lyah dachte über die Worte nach. Und plötzlich dämmerte es ihr. Sie spürte, wie sich ihre Wangen etwas erwärmten. „Oh, jetzt verstehe ich. Ihr habt also... geheiratet?“
Farúnya schnaubte sanft. „Nein. Jedenfalls nicht so, wie du das kennst. Wir heiraten nicht in dem Sinne, wie die Menschen es tun. Wir haben uns vereinigt, um den Fortbestand unserer Stämme zu sichern. So verläuft die Tradition, seit Anbeginn der Zeit; die Führer der Stämme vereinigen sich, wenn die Zeit reif dafür ist und manchmal passiert es auch, dass beide Führer die Vereinigung nicht nur aus Pflichtbewusstsein und der Tradition wegen vollziehen.“
Lyah horchte auf. „Heißt das, dass du Ranjek... liebst?“
„Warum überrascht dich das?“
„Keine Ahnung... Aber du hast Recht, das dürfte ja eigentlich nicht verwundern. Warum sollten so wundervolle und sanftmütige Wesen wie Einhörner nicht die Liebe kennen?!“
Farúnya prustete aus. „Eben. Da würde dir mein Kind nur zustimmen.“
Lyah lächelte, bis sie verstand, was die Stute gerade gesagt hatte. Mit einem Schwung glitt sie von ihrem Rücken.
„Du bist schwanger und lässt mich auf dir reiten?“, fragte sie missbilligend.
Farúnya drehte sich zu ihr um. „Ich bin kein altes, gebrechliches Einhorn. Ich erwarte ein Kind, ich bin nicht krank.“
„Aber...“
„Wenn du unbedingt zu Fuß weitergehen möchtest... bitte.“
Farúnya setzte ihren Weg gemächlich fort und plötzlich hatte Lyah den Eindruck, als sei die Stute gekränkt.
Leiden tragende Einhörner auch unter Stimmungsschwankungen?, überlegte Lyah und ging ihr nach.
„Es tut mir Leid, Farúnya“, sagte sie zögernd.
„Was denn?“
„Na ja... falls ich dich verletzt habe...“
„Das hast du nicht, Lyah. Ich vergesse immer wieder, dass dir die Wesensart von uns Einhörnern immer noch neu ist. Übrigens – hast du deine Brüder bereits hergeführt?“
„Nein. Wenn, dann wärst du die erste, die es erfahren würde.“
„Aber warum nicht? Hast denn wenigstens schon ihre Erinnerungen aufgefrischt?“
„Nein. Ich glaube, ich muss ganz von vorne anfangen. Sie erinnern sich bestimmt an gar nichts mehr.“
„So wie du Anfangs.“
Lyah lächelte. „Ja. Da war es ja gut, dass ich gleich dir begegnet war.“
Sie erreichten die riesige Eiche, die vor einigen Jahren von einem Blitz getroffen worden war. Ihr gewaltiger Stamm war gespalten, die Rinde fast vollständig abgefallen. Während die Blätter der anderen Bäume um die Eiche herum noch grün waren, trug die Eiche selbst kein einziges Blatt mehr. Lediglich das Nest eines Goldschwanz-Pärchens, gebaut aus Mistel-Zweigen, thronte zwischen den Ästen.
Sie gingen um die Eiche herum und sahen das Glitzern des Sees.
Für die nächste Stunde saßen und lagen sie gemeinsam am Ufer und unterhielten sich über verschiedene Dinge oder schwiegen einfach nur in gegenseitigem Einvernehmen.
Plötzlich kam kalter Wind auf. Lyah fröstelte und sah zum Himmel auf. Es waren keine Wolken zu sehen, aber dafür ein... Sie runzelte die Stirn. Schwarzer Nebel?
„Farúnya, was ist das?“
Die Stute sah gar nicht erst auf. „Wir wissen es nicht. Es erscheint schon seit einigen Monaten. Selbst die Ältesten wissen nicht, was es ist. Aber alle fürchten es, sowohl die Tiere wie auch die Menschen. Und ich kann es ihnen nicht verdenken, denn es ist giftig.“
„Giftig?“
Farúnya stand auf und trank etwas Wasser. „Vor zwei Monaten erschien der Nebel über dem Südfeld und zog in Richtung des Dorfes. Die Menschen sagen, der Nebel sei niedergegangen und habe sich über den Dorfplatz gelegt. Als er sich kurz darauf wieder verzogen hatte, sahen sie, dass die Vögel und Schafe, die auf dem Platz geblieben waren, nun tot waren. Als die Menschen das Wasser aus dem Brunnen tranken, wurden sie krank. Viele von ihnen starben wenig später und die, die nicht starben, verloren den Verstand.“
„Das ist ja schrecklich!“
„Selbst die Magier jenseits von Westland haben diesen Nebel schon beobachtet, konnten aber noch nicht herausfinden, was er ist. Es heißt...“ Farúnya sah zum Wald hinüber und spitzte die Ohren. „Es heißt, der Nebel habe die östliche Festung der Magier zerstört und alle Menschen dort hinfort gerissen. Aber ob das wirklich stimmt... Ich kenne die Menschen inzwischen sehr gut und weiß, dass sie gerne übertreiben, vor allem nach einem Unglück.“
Ein Schwarm Federspatzen stob auf und auch das Goldschwanz-Pärchen verließ eiligst die tote Eiche. Lyah zuckte zusammen, als plötzlich ein Rudel Hirsche hinter ihr stand. Sie sahen erwartungsvoll zu Farúnya, dann blickten sie zum Himmel auf. Lyah folgte ihren Blicken.
Der schwarze Nebel zog nicht weiter, er war stehen geblieben. Und senkte sich langsam herab. Direkt auf den See zu.
„Herrin!“ Der Hirsch trieb sein Rudel voran und sah zu Farúnya. „Flieht! Schnell!“
Sie stellte sich neben einen Felsen. „Er hat Recht, Lyah. Wir sollten fort von hier. Steig auf.“
Mit wenigen, schnellen Schritten lief Lyah über den Felsen und ließ sich auf Farúnyas Rücken gleiten. Die Stute trabte los, fort vom Wald, hinaus auf die Ebene des Westens.
Als Lyah nach hinten sah, stockte ihr der Atem.
Wie es aussah, flohen alle Tiere aus dem Wald, sie waren dicht hinter ihnen. Der Nebel hatte den See erreicht und färbte ihn schwarz. Doch er verharrte nicht etwa dort; er umhüllte die Bäume, kroch zwischen ihren Stämmen hindurch und erreichte die freie Ebene.
Farúnya beschleunigte ihren Trab.
Sie waren in der Nähe des Baches, der von den Bergen kam und in den See mündete. Lyah gefror das Blut in den Adern, als sie sah, was geschah.
Der Nebel hatte den Bach eingefangen und kroch entgegen der Strömung hinauf. Das Wasser war tiefschwarz.
Er holte sie ein.
„Farúnya?!“
Die Stute blickte kurz nach links. „Halt dich fest.“ Dann galoppierte sie los.
Lyah krallte sich in ihrer Mähne fest und hoffte, ihr nicht weh zu tun.
Farúnya preschte über die westliche Ebene und es dauerte nicht lange, bis sie die Wüste von Westland erreichten. Sand wirbelte auf. Und Panik kroch in Lyah hoch, als sie sah, dass das schwarze Wasser sie fast eingeholt hatte.
Plötzlich ertönte ein gewaltiger Donnerschlag, die Erde erbebte und ein gleißendes Licht ließ sie erblinden. Farúnya stoppte so abrupt, dass Lyah fast den Halt verloren hätte. Sie fand ihr Gleichgewicht wieder und kniff die Augen zusammen. Das grelle Licht schmerzte.
Der Donner wiederholte sich und hielt an. Er strömte durch Lyahs Körper und ließ jede Faser vibrieren.
So plötzlich wie es aufgetaucht war, verschwand das Licht wieder.
Lyah sah schemenhafte Gestalten auf sich zukommen, noch immer geblendet, und überwältigt von einer heftigen Übelkeit kippte sie zur Seite und schlug auf dem kalten Wüstensand auf. Ihr Magen krampfte sich zusammen, beinahe augenblicklich erschlafften ihre Muskeln. Sie wollte husten, als Sand in ihre Lungen kam, aber es ging nicht.
Sie sah zur Seite und erschrak. Farúnya lag reglos neben ihr im Wüstensand.
Sie versuchte, zu husten.
Ich kann nicht atmen!
Lyah keuchte. Die Gestalten kamen näher. Sie konnte kaum etwas sehen, aber sie konnte erkennen, dass sie keine Gesichter hatten.
Farúnya!
Lyah versuchte aufzustehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht.
„Farúnya... Farún...“
Und dann wurde es dunkel.
Klappernd schwangen die Krücken um die Ecke und er presste den Finger auf die Klingel. Und ließ nicht los. Das durchgehende Schrillen drang durch die Tür, bis sie schließlich geöffnet wurde. Lyah schlug ihm auf die Finger, damit er endlich den Klingelknopf losließ. Dann sah sie ihn vorwurfsvoll an.
Luca grinste nur breit. Lyah schüttelte den Kopf und ging in ihre Wohnung zurück.
„Wie wär’s, wenn du ins Erdgeschoss umziehen würdest?“, fragte Luca, während er in die Diele humpelte und die Tür schloss. „Mit Krücken in den dritten Stock hüpfen und das ohne Aufzug... Das ist die reinste Folter.“
Lyah sah um die Ecke. „Da bist du selbst Schuld dran. Mehr brauch ich nicht dazu zu sagen.“
Er verzog nur das Gesicht und folgte ihr in die Küche.
„Hm, das duftet aber lecker. Was gibt’s denn?“
„Chinesisch – selbst bestellt, natürlich.“
„Oh, natürlich.“ Luca ließ sich auf einen der vier Stühle fallen. „Warum hast du so schick gedeckt? Eigentlich müsste ich mich doch bei dir entschuldigen...“
„Was auch noch aussteht, da du es gerade erwähnst.“ Lyah sah ihn erwartungsvoll an, aber Luca war sehr mit dem Muster des Holztisches beschäftigt. „Du solltest dich beeilen, Leo und Jen kommen gleich.“
„Jen kommt?“
„Nicht ablenken!“
Luca schürzte die Lippen und erkannte, dass seine übliche Taktik diesmal nichts bringen würde. Er stand auf, hopste einen großen Sprung auf seine Schwester zu und drückte sie fest an sich.
„Es tut mir ehrlich, ehrlich ganz dolle Leid, Lyah. Wie immer hast du natürlich Recht und ich war blöd und dumm. Bitte entschuldige.“ Er sah sie mit seinen rehbraunen Augen unschuldig an.
Lyah lächelte nachsichtig und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Du bist einfach unglaublich.“
„Ich weiß.“
„Unglaublich eingebildet“, fügte sie hinzu und ging wieder zum Herd.
„Ich weiß.“
„Trottel“, sagte sie leise.
„Ich weiß.“
Lyah wandte sich um. „Aha, ein Trottel mit unverschämt guten Ohren.“
Lucas Grinsen wuchs in die Breite. Entrüstet schleuderte Lyah ihm das Geschirr-Handtuch entgegen und verließ die Küche, als es klingelte. Luca hörte, dass Leo gekommen war. Unwillkürlich versteifte er sich, als er Jens Stimme erkannte.
„Oh mein Gott, Luca, was ist mit deinem Fuß passiert?“
Luca zuckte zusammen. Er wollte gerade antworten, als Jen direkt vor ihn trat. Sein Blick haftete sich fest an ihren langen rotbraunen Haaren, die als Pferdeschwanz über ihre linke Schulter hingen. Ihre blaugrünen Augen sahen ihn erschrocken an.
„Das willst du nicht wirklich wissen“, sagte Lyah.
„Doch, will ich.“
„Es genügt, wenn ich sage, dass er es verdient hat“, sagte Leo und setzte sich Luca gegenüber. Der warf seinem Bruder einen bösen Blick zu.
Jen erwiderte nichts dazu und setzte sich neben Leo.
Lyah stellte das Essen, das kurz vor Lucas Eintreffen von einem Kurier gebracht worden war, auf den Tisch und setzte sich ebenfalls dazu.
Mehr als drei Stunden vergingen, in denen sie aßen und sich fröhlich unterhielten und lachten und schließlich sogar einige Runden Mensch-ärger-dich-nicht, zum ersten Mal nach so vielen Jahren, spielten. Es war weit nach Mitternacht, als Lyah plötzlich einfiel, weshalb sie ihre beste Freundin und ihre Brüder eingeladen hatte. Sie schimpfte sich selbst, dass sie ihren Plan verdrängt hatte, nur aus Angst, dass sie ihr nicht glauben würden. Sie konnten sich nicht erinnern und gerade das machte es umso schwieriger.
Andererseits hatten sie einen sehr schönen Abend gehabt. Es war so viele Jahre, viel zu viele Jahre her gewesen, dass sie alle zusammen gesessen und Spaß gehabt hatten.
Jen drückte Lyah fest an sich. „Es war so schön, euch alle wieder zu sehen. Nun ja, Leo sehe ich fast jeden Tag, aber gerade wir zwei haben uns völlig aus den Augen verloren. Das ist so schade.“
„Ja, das ist es“, erwiderte Lyah. „Ab heute werden wir das ändern. Wir müssen uns öfter sehen, Jen. Wie früher.“
Jen nickte. „Und das werden wir auch. Auf jeden Fall.“ Sie folgte Leo zum Treppenabsatz und wandte sich noch einmal zu Luca um. „Wiedersehen... du Chaot.“
Luca grinste. „Wiedersehen, Jen. Und gute Nacht.“
„Soll ich dir nach unten helfen?“, fragte Lyah, als Luca sich in einer merkwürdigen Haltung übers Treppengeländer lehnte. Er sah Jen und Leo nach.
„Danke, aber die vier Stufen schaff ich auch so. Hat mir schon gereicht, allein Leos Vorschlag, mich zu tragen.“
Lyah lachte. „Du hättest sein Angebot annehmen sollen, schließlich wärst du fast gestürzt.“
„Ja, eben nur fast.“
Sie öffnete ihm die Tür des Taxis, das bereits seit zehn Minuten wartete. Bevor er einstieg, nickte er in die Richtung, in der Jen und Leo verschwunden waren.
„Wie lange geht das schon mit den beiden?“
Lyah verstand zunächst nicht. „Oh, du meinst Jen und Leo?“ Sie grinste. „Leo hat sie lediglich abgeholt, da ihre Wohnungen dicht beieinander liegen. Aber mehr ist da nicht; jedenfalls, nicht dass ich wüsste. Also sei unbesorgt, Luca, die beiden sind kein Paar.“
„Warum sollte ich deswegen besorgt sein?“, erwiderte er und stieg ein.
„Du brauchst es nicht leugnen, Brüderchen, ich habe heute Abend deutlich gesehen, dass deine alten Gefühle für Jen neu entflammt sind.“
Luca sah sie böse an. „Nach all den Jahren? Du spinnst doch!“
„Es sind nur fünf Jahre, in denen ihr euch nicht gesehen habt. Das muss nichts bedeuten.“
„Ja klar.“
Lyah grinste und schloss die Tür. Während das Taxi in der Dunkelheit verschwand, wusste sie plötzlich, dass es doch ganz gut gewesen war, ihnen noch nichts erzählt zu haben. Sie waren noch nicht bereit. Sie musste sie erst vorbereiten.
Es knackte und raschelte leise, als sie durch das Unterholz schritten. Farúnyas Hufe zerbrachen mit Leichtigkeit kleine Zweige und trockenes Laub. Lyah zog den Kopf ein, als ein Ast auf Augenhöhe vor ihr auftauchte. Das Gestrüpp und das Laubwerk wurden offener, mehr Sonnenstrahlen kamen hindurch und vertrieben die Düsternis des Waldes.
Farúnya nahm eine kleine Anhöhe und schon standen sie auf dem Nordfeld. Goldenes Getreide schimmerte ihnen entgegen. Die Stute nahm den kleinen Pfad nach links, der am Waldrand entlang zum See führte. Lyah entspannte sich, schloss die Augen und genoss die sanften Bewegungen Farúnyas.
Ihr Fell war so weich und zart. Lyah hatte sich zuerst gesträubt, aufzusteigen, aber die Stute hatte darauf bestanden. Es war das erste Mal, dass Lyah ohne Sattel ritt, und es war ein seltsames Gefühl. Aber schön. Und sie konnte sich Farúnya beim besten Willen nicht mit Sattel und Zaumzeug vorstellen. Das würde sie auch nicht zulassen. Niemals.
„Farúnya?“
„Ja?“
„Was ist denn jetzt diese Vereinigung, die vor einigen Tagen war?“
„Ich habe mich mit Ranjek vereinigt.“
Lyah runzelte die Stirn. „Das versteh ich nicht. Wer oder was ist Ranjek?“
„Ranjek ist der Führer der Rotfelle. Sie leben oben in den Bergen. Wir haben uns vereinigt, weil es die Tradition verlangte – und unsere Herzen.“
Lyah dachte über die Worte nach. Und plötzlich dämmerte es ihr. Sie spürte, wie sich ihre Wangen etwas erwärmten. „Oh, jetzt verstehe ich. Ihr habt also... geheiratet?“
Farúnya schnaubte sanft. „Nein. Jedenfalls nicht so, wie du das kennst. Wir heiraten nicht in dem Sinne, wie die Menschen es tun. Wir haben uns vereinigt, um den Fortbestand unserer Stämme zu sichern. So verläuft die Tradition, seit Anbeginn der Zeit; die Führer der Stämme vereinigen sich, wenn die Zeit reif dafür ist und manchmal passiert es auch, dass beide Führer die Vereinigung nicht nur aus Pflichtbewusstsein und der Tradition wegen vollziehen.“
Lyah horchte auf. „Heißt das, dass du Ranjek... liebst?“
„Warum überrascht dich das?“
„Keine Ahnung... Aber du hast Recht, das dürfte ja eigentlich nicht verwundern. Warum sollten so wundervolle und sanftmütige Wesen wie Einhörner nicht die Liebe kennen?!“
Farúnya prustete aus. „Eben. Da würde dir mein Kind nur zustimmen.“
Lyah lächelte, bis sie verstand, was die Stute gerade gesagt hatte. Mit einem Schwung glitt sie von ihrem Rücken.
„Du bist schwanger und lässt mich auf dir reiten?“, fragte sie missbilligend.
Farúnya drehte sich zu ihr um. „Ich bin kein altes, gebrechliches Einhorn. Ich erwarte ein Kind, ich bin nicht krank.“
„Aber...“
„Wenn du unbedingt zu Fuß weitergehen möchtest... bitte.“
Farúnya setzte ihren Weg gemächlich fort und plötzlich hatte Lyah den Eindruck, als sei die Stute gekränkt.
Leiden tragende Einhörner auch unter Stimmungsschwankungen?, überlegte Lyah und ging ihr nach.
„Es tut mir Leid, Farúnya“, sagte sie zögernd.
„Was denn?“
„Na ja... falls ich dich verletzt habe...“
„Das hast du nicht, Lyah. Ich vergesse immer wieder, dass dir die Wesensart von uns Einhörnern immer noch neu ist. Übrigens – hast du deine Brüder bereits hergeführt?“
„Nein. Wenn, dann wärst du die erste, die es erfahren würde.“
„Aber warum nicht? Hast denn wenigstens schon ihre Erinnerungen aufgefrischt?“
„Nein. Ich glaube, ich muss ganz von vorne anfangen. Sie erinnern sich bestimmt an gar nichts mehr.“
„So wie du Anfangs.“
Lyah lächelte. „Ja. Da war es ja gut, dass ich gleich dir begegnet war.“
Sie erreichten die riesige Eiche, die vor einigen Jahren von einem Blitz getroffen worden war. Ihr gewaltiger Stamm war gespalten, die Rinde fast vollständig abgefallen. Während die Blätter der anderen Bäume um die Eiche herum noch grün waren, trug die Eiche selbst kein einziges Blatt mehr. Lediglich das Nest eines Goldschwanz-Pärchens, gebaut aus Mistel-Zweigen, thronte zwischen den Ästen.
Sie gingen um die Eiche herum und sahen das Glitzern des Sees.
Für die nächste Stunde saßen und lagen sie gemeinsam am Ufer und unterhielten sich über verschiedene Dinge oder schwiegen einfach nur in gegenseitigem Einvernehmen.
Plötzlich kam kalter Wind auf. Lyah fröstelte und sah zum Himmel auf. Es waren keine Wolken zu sehen, aber dafür ein... Sie runzelte die Stirn. Schwarzer Nebel?
„Farúnya, was ist das?“
Die Stute sah gar nicht erst auf. „Wir wissen es nicht. Es erscheint schon seit einigen Monaten. Selbst die Ältesten wissen nicht, was es ist. Aber alle fürchten es, sowohl die Tiere wie auch die Menschen. Und ich kann es ihnen nicht verdenken, denn es ist giftig.“
„Giftig?“
Farúnya stand auf und trank etwas Wasser. „Vor zwei Monaten erschien der Nebel über dem Südfeld und zog in Richtung des Dorfes. Die Menschen sagen, der Nebel sei niedergegangen und habe sich über den Dorfplatz gelegt. Als er sich kurz darauf wieder verzogen hatte, sahen sie, dass die Vögel und Schafe, die auf dem Platz geblieben waren, nun tot waren. Als die Menschen das Wasser aus dem Brunnen tranken, wurden sie krank. Viele von ihnen starben wenig später und die, die nicht starben, verloren den Verstand.“
„Das ist ja schrecklich!“
„Selbst die Magier jenseits von Westland haben diesen Nebel schon beobachtet, konnten aber noch nicht herausfinden, was er ist. Es heißt...“ Farúnya sah zum Wald hinüber und spitzte die Ohren. „Es heißt, der Nebel habe die östliche Festung der Magier zerstört und alle Menschen dort hinfort gerissen. Aber ob das wirklich stimmt... Ich kenne die Menschen inzwischen sehr gut und weiß, dass sie gerne übertreiben, vor allem nach einem Unglück.“
Ein Schwarm Federspatzen stob auf und auch das Goldschwanz-Pärchen verließ eiligst die tote Eiche. Lyah zuckte zusammen, als plötzlich ein Rudel Hirsche hinter ihr stand. Sie sahen erwartungsvoll zu Farúnya, dann blickten sie zum Himmel auf. Lyah folgte ihren Blicken.
Der schwarze Nebel zog nicht weiter, er war stehen geblieben. Und senkte sich langsam herab. Direkt auf den See zu.
„Herrin!“ Der Hirsch trieb sein Rudel voran und sah zu Farúnya. „Flieht! Schnell!“
Sie stellte sich neben einen Felsen. „Er hat Recht, Lyah. Wir sollten fort von hier. Steig auf.“
Mit wenigen, schnellen Schritten lief Lyah über den Felsen und ließ sich auf Farúnyas Rücken gleiten. Die Stute trabte los, fort vom Wald, hinaus auf die Ebene des Westens.
Als Lyah nach hinten sah, stockte ihr der Atem.
Wie es aussah, flohen alle Tiere aus dem Wald, sie waren dicht hinter ihnen. Der Nebel hatte den See erreicht und färbte ihn schwarz. Doch er verharrte nicht etwa dort; er umhüllte die Bäume, kroch zwischen ihren Stämmen hindurch und erreichte die freie Ebene.
Farúnya beschleunigte ihren Trab.
Sie waren in der Nähe des Baches, der von den Bergen kam und in den See mündete. Lyah gefror das Blut in den Adern, als sie sah, was geschah.
Der Nebel hatte den Bach eingefangen und kroch entgegen der Strömung hinauf. Das Wasser war tiefschwarz.
Er holte sie ein.
„Farúnya?!“
Die Stute blickte kurz nach links. „Halt dich fest.“ Dann galoppierte sie los.
Lyah krallte sich in ihrer Mähne fest und hoffte, ihr nicht weh zu tun.
Farúnya preschte über die westliche Ebene und es dauerte nicht lange, bis sie die Wüste von Westland erreichten. Sand wirbelte auf. Und Panik kroch in Lyah hoch, als sie sah, dass das schwarze Wasser sie fast eingeholt hatte.
Plötzlich ertönte ein gewaltiger Donnerschlag, die Erde erbebte und ein gleißendes Licht ließ sie erblinden. Farúnya stoppte so abrupt, dass Lyah fast den Halt verloren hätte. Sie fand ihr Gleichgewicht wieder und kniff die Augen zusammen. Das grelle Licht schmerzte.
Der Donner wiederholte sich und hielt an. Er strömte durch Lyahs Körper und ließ jede Faser vibrieren.
So plötzlich wie es aufgetaucht war, verschwand das Licht wieder.
Lyah sah schemenhafte Gestalten auf sich zukommen, noch immer geblendet, und überwältigt von einer heftigen Übelkeit kippte sie zur Seite und schlug auf dem kalten Wüstensand auf. Ihr Magen krampfte sich zusammen, beinahe augenblicklich erschlafften ihre Muskeln. Sie wollte husten, als Sand in ihre Lungen kam, aber es ging nicht.
Sie sah zur Seite und erschrak. Farúnya lag reglos neben ihr im Wüstensand.
Sie versuchte, zu husten.
Ich kann nicht atmen!
Lyah keuchte. Die Gestalten kamen näher. Sie konnte kaum etwas sehen, aber sie konnte erkennen, dass sie keine Gesichter hatten.
Farúnya!
Lyah versuchte aufzustehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht.
„Farúnya... Farún...“
Und dann wurde es dunkel.
Ende Kapitel 1
Lady Rhanya- Mentor
- Anzahl der Beiträge : 1229
Anmeldedatum : 14.09.11
Alter : 40
Ort : In einer kleinen Stadt in den Bergen im südlichen Elyne, zwei Tagesritte von Capia entfernt.
Re: Die Weltenforscherin
"Zeigt her eure Comments, zeigt her eure Kritik..."
So, das wird jetzt viel, aber ich stell gleich alles von Kapitel 2 rein. Dieses Kapitel bestand bereits zur Hälfte und wurde inzwischen überarbeitet
Ich stelle es auch in 'nen Spoiler, weil man es dann doch besser lesen kann und nicht so viel Platz wegnimmt
So, das wird jetzt viel, aber ich stell gleich alles von Kapitel 2 rein. Dieses Kapitel bestand bereits zur Hälfte und wurde inzwischen überarbeitet
Ich stelle es auch in 'nen Spoiler, weil man es dann doch besser lesen kann und nicht so viel Platz wegnimmt
- Spoiler:
- Kapitel 2Der erste Gedanke war:
„Westland“
Das ist der schlimmste Muskelkater, den ich jemals hatte.
Lyah schlug die Augen auf und selbst das war anstrengend. Sie blinzelte. Sie konnte nicht klar sehen, alles war verschwommen. Und irgendjemand, der in ihrem Kopf saß, versuchte ihre Augen nach außen zu drücken.
Sie rollte sich auf den Rücken und stöhnte auf. Wirklich jeder Muskel, jede einzelne Faser schmerzte. Sie ließ die Augen geschlossen und atmete tief durch.
Was ist passiert?
Sie erinnerte sich an viele Dinge, doch sobald sie sich darauf konzentrierte, um sie klarer zu sehen, entschwanden sie schon wieder ihrem Geist. Kleine Details flackerten auf. Sand. Viel Sand. Und schwarzes Wasser. Gestalten... ohne Gesichter... weißes Fell...
„Farúnya!“
Lyah wollte aufstehen, aber etwas hielt sie fest. Jemand.
„Bleibt liegen, Herrin, Ihr seid noch zu schwach.“
Wer spricht da?
„Wer spricht da?“, fragte Lyah mit zitternder Stimme. Fast schon belustigt stellte sie fest, dass sogar ihre Stimmbänder unter Muskelkater litten.
„Mein Name ist Taline. Ich bin Heilerin in Caestra.“
Wo?
„Wo?“
„Caestra ist Zweitstadt von Westland.“
Hä?
„Ich werde all Eure Fragen später beantworten, Herrin. Aber zuvor müsst Ihr Euch erholen.“
„Was ist... was ist mit Farúnya?“
„Der Stute geht es gut.“
Da spricht ein Mann! Wer ist das denn jetzt?
„Ebenso ihrem Füllen. Ruht Euch aus, Herrin. Ihr seid hier in Sicherheit.“
Das kann ja jeder sagen, dachte Lyah, trotzdem überschattete tiefe Müdigkeit ihre Sinne und sie schlief abermals ein.
Es raschelte leise, als ihre Finger in den Topf eintauchten und einige der getrockneten Blätter herausholten. Sie warf sie in den Becher und goss das heiße Wasser darüber. Sofort erfüllte ein minziger Duft den kleinen Raum.
Unter den halb geschlossenen Lidern beobachtete Cedric, wie Taline sich vorsichtig auf die Bettkante setzte. Sie öffnete ein kleines Fläschchen und gab einige Tropfen der Flüssigkeit auf ein weißes Tuch. Der Duft von frischem Flieder vermischte sich mit der Minze und Cedric spürte, wie seine Sinne erwachten.
Er öffnete die verschränkten Arme und reckte sich.
„Ihr solltet zu Bett gehen, Mylord“, sagte Taline und tupfte mit dem Tuch über die Stirn der fremden Frau.
„Jemand sollte weiterhin über sie wachen“, erwiderte er.
„Ja, das stimmt. Aber nicht Ihr. Ich bin auch noch da.“
Cedric grinste schief. „Taline, Ihr kümmert Euch nun schon seit Stunden um sie. Ihr braucht Schlaf, nicht ich.“
Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Sie wird bald erwachen. Es wäre besser, wenn sie zuerst mich sieht, anstatt Euch. Verzeiht, Mylord, aber Ihr erweckt nicht gerade einen vertrauenswürdigen Eindruck.“
Cedric hob die Augenbrauen. „Nicht vertrauenswürdig? Ich frage mich, wie Ihr nur darauf kommt.“
Sie kicherte. „Ihr werdet Eurem Vater immer ähnlicher, Mylord.“
Er gab ein entrüstetes Brummen von sich und zog den Kragen seines Hemdes etwas höher, damit sie sein Schmunzeln nicht sehen konnte.
Taline erhob sich und zog die Decke über die Schlafende. „Ich werde Euch in einer Stunde etwas Suppe bringen“, sagte sie. „Bitte gebt mir Bescheid, sobald sie erwacht.“
Cedric nickte. Dann verließ Taline den Raum und schloss die Tür leise hinter sich.
Er drückte sich wieder in den tiefen Sessel und sah zu der Frau hinüber. Seine Gewissensbisse regten sich wieder. Er wusste, er hatte den Abwehrzauber zu stark geformt. Hätte Riand ihn nicht darauf hingewiesen, dass da nicht nur der schwarze Nebel war, hätte er sie beide getötet. Die Frau und das Einhorn. Und das Füllen.
Ein Stich durchzuckte Cedric.
Ein ungeborenes Fohlen. Er hätte sie beinahe alle drei getötet und das nach nicht einmal einem Jahr nach seiner Amtseinführung zum Stadtherrn. Und das als Erbe des Reitervolkes.
Er runzelte die Stirn.
Wer sie wohl war? Ihr Erscheinen war merkwürdig gewesen. Nicht nur, dass sie auf dem Rücken eines Einhorns geritten kam, sie hatten auch noch die Wüste durchquert. Kein Mensch getraute sich durch dieses Ödland, auch wenn es nicht sehr ausgedehnt war; nicht einmal Magier wagten einen Schritt dort hinaus.
Cedrics Mundwinkel zuckten, als er daran dachte, wie er und Riand sich früher gegenseitig zu übertreffen versucht hatten, indem sie einen Schritt nach dem anderen die Wüste betraten. Mehr als einmal hatten sie der Gefahr dort gegenüber gestanden und waren nur knapp dem Tode entkommen. Trotzdem hatten sie es immer wieder versucht.
Wir waren Kinder, dachte er. Übermütig und tollkühn, frei von Ängsten. Cedrics Blick verfinsterte sich. Es hätte nicht geschadet, wären wir etwas ängstlicher gewesen. Aber dadurch war abzusehen, dass es eines Tages zu einem Unglück kommen würde. Dieser verdammte Unfall...
Sie regte sich und drehte sich auf die Seite. Dabei fiel ihr braunes, gewelltes Haar über ihr zartes Gesicht.
Sie hatte wundervolle, gepflegte Haare, das war Cedric sofort aufgefallen. Sie musste aus einer wohlhabenden Familie kommen. Aber woher? Kyriad? Wohl kaum. Dafür war ihre Haut zu hell. Bethras? Nein, dafür war ihre Haut zu dunkel.
Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Käme sie aus einem Hause Caestras, würde er sie kennen. Er kannte alle Töchter der wohlhabenden Häuser der Stadt und sie war keine von ihnen.
Sie regte sich wieder und rollte auf die andere Seite. Und wieder zurück. Ihre Augen bewegten sich schnell unter ihren Lidern.
Sie hat einen Albtraum, dachte Cedric bekümmert. Das ist eine der Nebenwirkungen eines zu stark geformten Abwehrzaubers. Verzeiht, Herrin.
„Luca...“, murmelte sie.
Luca? Ihr Gefährte?
„Leo...“
Zwei Gefährten? Cedric schmunzelte und schüttelte den Kopf.
Er stand auf und kniete sich neben das niedrige Bett. Er legte ihr eine Hand auf die Stirn und hoffte, ihr wenigstens die bösen Träume nehmen zu können; aber wie erwartet funktionierte es nicht. Er war die Ursache für ihren Zustand und sein schlechtes Gewissen war das Hindernis zwischen seiner Magie und ihrer Heilung.
Sie stöhnte auf – und öffnete die Augen.
Ihre Blicke trafen sich und Cedric rechnete schon damit, dass sie zurückweichen würde. Umso größer war seine Überraschung, als sie es nicht tat.
Sie blinzelte mehrmals, wendete ihren Blick aber nicht ab. Ihre wiranussbraunen Augen musterten ihn neugierig.
„Herrin... Fühlt Ihr Euch besser?“
Sie holte Luft, um zu antworten, stattdessen entrang ein schmerzender Husten ihrer trockenen Kehle.
„Hier.“ Cedric half ihr, sich aufzusetzen, und reichte ihr einen metallenen Becher. „Trinkt das.“
Sie nahm einen vorsichtigen Schluck. Es war Wasser. Wasser mit... irgendwas. Aber es half. Und es schmeckte köstlich.
„Ich bin Lord Cedric von Velaqine. Wie ist Euer Name, Herrin?“
Sie räusperte sich kurz. „Lyah... Lyah Lockwood*.“
„Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen, Lady Lyah.“
Amüsiert beobachtete sie, wie er sich, immer noch vor ihrem Bett kniend, verneigte. Sie hatte keine Ahnung, was sein Name bedeuten sollte und erst recht nicht, wo sie war, geschweige denn, wer er war. Aber er sah... interessant aus.
Schwarze, leicht gewellte Haare umrahmten sein schmales, überaus attraktives Gesicht und fielen locker über seine kräftigen Schultern. Oberlippe und Kinn waren bedeckt von einem leichten Bartwuchs, aber es sah auch so aus, als hätte er sich seit mehr als einem Tag nicht mehr rasiert. Sie sah ihm in seine blauen Augen und ein Schauder überlief sie. Ein wohliger Schauder.
Um Himmels Willen, Lyah! Du wirst doch jetzt wohl nicht etwa...
Etwas regte sich in ihr und sie spürte die Hitze in ihrem Gesicht.
Er lächelte und die seltsame Regung verstärkte sich. Schnell sah sie weg.
Das darf doch wohl nicht wahr sein!
„Stimmt etwas nicht?“, fragte er.
„Ich... hm... Ich wüsste gerne, wo ich hier bin.“
„Ihr seid in meinem Heim, auf Burg Velaqine, Sitz des Stadtherrn von Caestra.“
Lyah verzog das Gesicht. „Tut mir Leid, das klingt... wirklich sehr... eindrucksvoll, aber ich kann leider nichts damit anfangen. Ich... Ich würde gerne Farúnya sehen. Ich muss mit ihr sprechen.“
Er nickte und stand auf. „Wenn Ihr Euch stark genug fühlt. Ich werde Taline nach Euch schicken, damit sie sich um Euch kümmert und Euch beim Ankleiden hilft.“
Beim Ankleiden?
Die Hitze in Lyahs Gesicht nahm drastisch zu, als sie plötzlich begriff und vor allem spürte, dass sie lediglich ein Hemd trug. Zwar ein recht langes, aber doch ziemlich dünnes – gefährlich dünnes – Hemd.
Sie zog die Decke etwas höher und lächelte schief. „Danke.“
Cedric verneigte sich nochmals und verließ das Zimmer.
Die Wände sowie der Boden waren aus großen Steinblöcken gebaut. Ein weicher, nicht mehr allzu roter Teppich legte das kühle Gestein des Bodens aus; hellblaue Teppiche hingen an den Wänden, jeweils einer zwischen zwei der zahlreichen hohen Fenster. Die Decke schien verputzt zu sein, mit einer unendlich scheinenden Anzahl von Bildern, Gemälden und sonstigen künstlerischen Verzierungen und Ornamenten versehen.
Der Korridor, den Lyah durchschritt, war breit und recht lang und es war keineswegs kühl und auch nicht zugig. Sie musste sich eingestehen, dass er sie kaum zum Staunen brachte, denn obwohl sie nur diesen einen Korridor zu sehen bekam, konnte sie sich schon recht gut vorstellen, wie wohl der Rest der Burg aussah, denn es gab kaum Unterschiede zu den alten Burgen Europas.
Einen bedeutenden Unterschied gab es jedoch gewiss: Hier herrschte Leben.
Der Korridor wirkte recht luxuriös und es wimmelte von Menschen. Die meisten von ihnen waren Diener und Dienstboten und junge Laufburschen, die ihr entgegen kamen oder von hinten an ihr vorbei eilten. Einige von ihnen schienen jedoch auch... hm, man könnte sagen, normale Menschen zu sein, gewöhnliche Bürger, in mal mehr, mal weniger guter Kleidung.
Sie folgte der Heilerin Taline an vielen Büsten vorbei, die vor den Wandteppichen standen; die meisten der dargestellten Personen, ausnahmslos Männer, schauten grimmig drein. Etwas überrascht stellte Lyah fest, dass die Büsten offensichtlich aus Bronze bestanden.
Sie erreichten das Ende des Korridors. Das große zweiflüglige Tor war geöffnet und zu beiden Seiten stand jeweils ein Wachsoldat. Frische Luft wehte ihnen entgegen, als sie die erste Stufe betraten. Es war eine recht lange Treppe, mindestens zwanzig Stufen, schätzte Lyah, und es waren ungewöhnlich breite Stufen, die nach unten führten, sie brauchte jeweils zwei Schritte für eine.
Sie hatte kaum zwei oder drei Stufen genommen, da blieb sie stehen. Jetzt konnte sie staunen.
Am Ende der Treppe erstreckte sich ein Park zu beiden Seiten, groß und gepflegt und traumhaft schön, mit alten und noch jungen Bäumen versehen und vielen, sehr vielen Blumenbeeten und einigen, scheinbar willkürlich verteilten Springbrunnen. Die riesige grüne Fläche wurde umrahmt von breiten Straßen. Die Straße in der Mitte war etwa doppelt so breit wie die anderen, zu beiden Seiten von Bronze- und Steinstatuen gesäumt, und endete in einem großen runden Platz, der direkt am Treppenabsatz lag.
Eine prachtvolle Kutsche mit zwei Pferden stand gerade dort. Ein Diener öffnete die Tür und half einer – verdammt übertrieben schick gekleideten! – Dame herunter.
Lyah hob eine Augenbraue. Meine Güte! Die sieht pompöser aus als eine Königin!
Alle Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe verneigten sich vor dieser Frau, als sie – überaus elegant – die Stufen nach oben stieg. Auch Taline verneigte sich, wenn auch nur geringfügig, und Lyah glaubte, eine leichte Abscheu über ihr Gesicht huschen zu sehen.
Lyah selbst verneigte sich natürlich nicht, wozu auch, sie wusste ja gar nicht, wer das war; sie wusste ja noch nicht einmal, wie man sich verneigte. Sie verkniff sich mit größter Mühe ein erheitertes Kichern und versuchte aber trotzdem, zumindest freundlich dreinzublicken; dennoch fing sie sich einen äußerst missmutigen Blick der Dame ein.
„Du meine Güte, wer war das denn?“, fragte Lyah, als sie und Taline den Platz erreichten.
„Die Komtess von Pevignon“, sagte Taline mürrisch.
„Ihr mögt sie nicht“, stellte Lyah fest.
Taline brummte nur zur Antwort und bog nach links auf einen schmalen Weg. Nur wenige Minuten später erreichten sie die Stallungen. Taline wechselte ein paar Worte mit dem Aufseher, der dann nickte und verschwand. Sie bedeutete Lyah, ihr zu folgen.
Sie gingen an vielen Boxen vorbei, in denen große, überaus gut gepflegte und stolze Pferde standen. Überhaupt wirkte der Stall sehr sauber, beinahe schon zu sauber für einen Stall, wie Lyah fand; trotzdem schienen sich die Federspatzen sehr wohl zu fühlen, gleich ein ganzer Schwarm hockte auf den Querbalken dicht unter dem Dach.
Dann kamen einige leere Boxen und in der letzten schimmerte es weiß zwischen den Gitterstäben hervor. Aufgeregt ging Lyah schneller und lief an Taline vorbei.
„Farúnya?“
Die Stute hob den Kopf und spitzte die Ohren. „Lyah. Ich freue mich, dass es dir besser geht.“
Lyah kraulte ihr über das helle Grau ihrer Nüstern. „Und wie geht es dir? Ich war sehr besorgt.“
„Ich danke dir, aber du brauchst dich nicht zu sorgen. Meinem Kind und mir geht es gut. Es konnte nichts Besseres passieren, als dass wir nach Caestra kamen.“
Lyah sah sie überrascht an. „Aber ich dachte, du wusstest, wohin du uns bringst. Du kennst dich hier doch besser aus als ich.“
„Aber nur bis zur Grenze. Als wir die Wüste erreichten, verlor ich die Orientierung. Ich hatte gehofft, wir würden uns nicht zu weit von Caestra entfernen.“
„Dies ist Euch auch gelungen, Herrin“, sagte Taline. Lyah staunte über ihre ehrfürchtig klingende Stimme.
Brachte sie einem Einhorn etwa mehr Respekt entgegen als einer Person ihres eigenen Volkes?
Farúnya senkte den Kopf. „Ich hoffe nur, wir bürden Lord Cedric nicht noch mehr Mühen auf. Ich weiß, dass er sehr beschäftigt ist, vor allem im Moment.“
Taline sah etwas wehleidig drein. „Dieser Moment dauert nun leider schon einige Monate an. Ich fürchte, Mylord leidet unter immer kürzeren Nächten, trotz der Schlafmittel, die ich ihm gebe. Aber seid unbesorgt, Herrin, ich weiß sehr wohl, wie sehr er sich gefreut hat, eine gute Freundin wieder zu sehen.“
Lyah stöhnte. „Würde mich vielleicht jemand mal aufklären, was hier überhaupt los ist... bitte?“
Die Heilerin sah sie überrascht an. „Farúnya erwähnte, Ihr würdet von weit her kommen. Ich denke, das ist sogar noch untertrieben, wenn Ihr noch nicht einmal wisst, was Caestra ist, geschweige denn, in welcher Situation wir uns befinden.“
„Situation?“
„Ich denke, es wäre besser, mit den Erklärungen zu warten, bis Lord Cedric zu uns stößt“, sagte Farúnya. „Er weiß etwas besser Bescheid über die Hintergründe und die derzeitige... Situation.“
„Da habt Ihr Recht, Herrin“, stimmte Taline ihr zu. „Warten wir noch eine Weile. Obwohl...“ Sie verzog das Gesicht. „Auf dem Weg hierher begegneten wir der Komtess von Pevignon. Ich fürchte, diese Weile könnte noch eine ganze Weile dauern.“
Etwa eine Stunde später lag Lyah zufrieden, und vor sich hindösend, im Gras und beobachtete die vorbeiziehenden Wolken. Direkt neben ihr stand Farúnya und stillte ihren Hunger. Taline war schon vor einiger Zeit gegangen, um nach Cedric zu sehen. Bisher keine Spur von ihr. Von beiden nicht.
Schließlich setzte Lyah sich auf. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns durch das bloße Durchqueren der Wüste so sehr dem Gebirge nähern würden. Vom Wald aus wirkte es immer so... fern.“
„Dies ist nicht das Gebirge des Nordens.“ Farúnya nickte zum Himmel auf. „Sieh doch. Die Sonne steht im Norden, also ist dies das Gebirge des Westens.“
Lyah stöhnte. „Diese beiden Sonnen verwirren mich so. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt. Aber wenn das das Gebirge des Westens ist... Warum ist dann das Gebirge des Nordens nicht zu sehen?“
„Weil wir uns in einem tiefen Tal befinden“, erklang es hinter ihnen.
Lyah drehte sich um. Cedric stand nur wenige Schritte hinter ihr. Er trug einen langen, dunklen Mantel, der im leichten Wind flatterte. Mit seinen blauen Augen sah er sie an und etwas war in seinem Blick, das Lyah nicht zu deuten vermochte. Oder etwa doch?
„Seht Ihr den Hügel dort vorne? Er wirkt nicht sehr hoch, doch das ist er. Der Zwergenhügel verbirgt vor Caestra die Sicht auf die Nordberge.“
„Zwergenhügel?“ Lyah runzelte die Stirn. „Wenn dieser Hügel höher ist als er aussieht, warum nennt Ihr ihn dann Zwergenhügel?“
„Weil die Zwerge ihn errichtet haben“, antwortete Cedric und setzte sich neben sie ins Gras. „Vor vielen Jahrhunderten begannen die Zwerge dort mit ihren Minenarbeiten und so entstand im Laufe der Zeit dieser Hügel. Die Erde, die sie aus den Stollen holten, häuften sie hier auf. Bis sie eines Tages ihre Minen verließen und so wuchsen Gräser und Büsche und schließlich auch Bäume.“
Lyah sah ihn skeptisch an. „Zwerge?!“
Cedric erwiderte ihren zweifelnden Blick. „Ja. Zwerge.“
„Tatsächlich untertreibt Lord Cedric ein wenig“, warf Farúnya ein. „Die Zwerge begannen mit ihren Arbeiten an den Minen bereits vor über einem Jahrtausend.“
Nun galt auch der Stute Lyahs Skepsis. „Zwerge? Wollt ihr mich vera... Zwerge?“
Cedric schüttelte den Kopf. „Woher kommt Ihr, Lady Lyah, dass Ihr noch nicht einmal von den Zwergen gehört habt?“
„Natürlich habe ich schon von Zwergen gehört! Aber doch nicht von Zwergen, die Minen bauen und Hügel errichten und... Von Gartenzwergen eher.“
„Garten...zwerge?“ Cedrics Blick sprach von totaler Verwirrung.
„Ihr seid spät, Cedric“, sagte Farúnya und wechselte offensichtlich das Thema.
„Ich bitte um Verzeihung, alte Freundin, ich wurde aufgehalten.“
„Alte Freundin?!“
„Die Komtess von Pevignon, nehme ich an“, sagte Lyah in einem hochnäsigen Tonfall.
Um Cedrics Mundwinkel zuckte es. „Ja, Ihr nehmt richtig an, Lady Lyah.“
Sie seufzte. „Bitte lasst dieses Lady weg, das klingt so... ungewohnt und irgendwie seltsam.“
Cedrics Schmunzeln wuchs. „Und Ihr seid irgendwie seltsam... wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, Lady Lyah.“
Sie sah ihn gespielt böse an.
„Gibt es denn irgendwelche Fortschritte, Cedric?“, fragte Farúnya und führte sie schon wieder auf das wichtigere Thema zurück.
„Nein, leider nicht. Abgesehen von der Tatsache, dass der Nebel diesmal sehr viel näher an Caestra herankam als sonst. Er verliert an Furcht.“
„Der Nebel fürchtet sich?“, fragte Lyah. „Vor was?“
„Vor mir“, sagte Cedric und lachte kurz auf, als Lyah ihn beinahe schon entsetzt ansah. „Ihr seid in Westland, Mylady, vor was wird der Nebel da wohl Angst haben?“
So langsam wurde sie sauer. Warum redete er immer noch so mit ihr, als wüsste sie über alles Bescheid? Hatte er es noch nicht kapiert, dass sie tatsächlich von weit, weit her kam?
„Cedric spricht von den Magiern“, sagte Farúnya.
„Oh“, erwiderte Lyah gedehnt und so langsam begriff sie wirklich.
„Und er selbst gehört zu ihnen.“
Sie sah, wie er verschmitzt grinste. „Ihr seid Magier?“
„Ja, das bin ich.“
„Wäre Cedric nicht gewesen, hätten wir weder die Wüste noch den Nebel überlebt“, sagte Farúnya.
Lyah beobachtete, wie Cedrics Grinsen verschwand.
„Na schön... hm... Ich danke Euch vielmals“, sagte sie. „Und jetzt hätte ich gerne die Erklärungen gehört.“
„Erklärungen?“
„Lyah weiß nicht, in welcher Situation sich unsere Länder befinden“, sagte Farúnya. „Sie kennt die Notlage unserer Welt nicht, ebenso wenig die Maßnahmen der Magier sowie den Nebel.“
„Nun ja, über den Nebel wissen selbst wir nicht viel“, erwiderte Cedric. „Wir wissen nur, dass er vor einigen Monaten zum ersten Mal gesichtet worden war. Er erscheint in unregelmäßigen Abständen, willkürlich, und mal hier, mal dort. Er ist nicht berechenbar. Aber er ist tödlich. Das wissen wir mit Sicherheit. Er macht krank. Und diejenigen, die nicht an seinem Gift sterben, verlieren den Verstand.“
Plötzlich wurde Cedric sehr ernst. „Der Verband der Magier schickt immer wieder Verstärkungen zu den Dörfern, die der Nebel heimgesucht hat, aber immer kommen sie zu spät. Inzwischen haben wir ein Verbot ausgehängt, das Wasser zu trinken, das der Nebel berührt hat, denn es ist giftig und natürlich halten sich die Menschen daran. Deshalb sind nun auch weniger Menschen erkrankt, aber viele leiden Durst. Das Gift löst sich von selbst wieder auf, wie wir herausgefunden haben, aber es dauert einfach zu lange. Und wenn die Tiere verdursten, haben wir auch kein Fleisch mehr. Gemüse und Salate verdorren, bevor sie richtig gedeihen können. Der Nebel ruiniert ganze Äcker.“
Diesmal überlief Lyah ein alles andere als wohliger Schauder, als Cedric sie ansah. „Der Winter naht und wir konnten noch nicht damit beginnen, Vorräte anzulegen.“
Sie schwiegen eine Weile. Und natürlich verstand Lyah den Ernst der Lage.
„Wie habt Ihr uns vor dem Nebel gerettet?“, fragte sie leise.
„Mit einem gewöhnlichen Abwehrzauber, aber stark geformt“, antwortete Cedric. „Ich sah den Nebel auf die Stadt zukommen und wusste zunächst nicht, was ich tun sollte. Bisher hatten nur drei Magier Kontakt zum Nebel und sie alle sind weitaus mächtigere Magier als ich, doch auch sie hatten keinen Erfolg.“ Er grinste bescheiden. „Eigentlich wird diese Art von Magie, die ich anwandte, kaum benutzt, aber irgendetwas musste ich ja tun.“
„Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen“, sagte Lyah und grinste.
Cedric nickte unschlüssig. „So wird es wohl sein, Lady Lyah.“
Für einige Sekunden sahen sie sich schweigend dann. Dann regte sich wieder dieses – unwillkommene – Gefühl in Lyah und sie wandte sich ab. Genervt rollte sie mit den Augen und so sah sie nicht, wie Cedric sie neugierig musterte.
„Nun seid Ihr an der Reihe, Mylady“, sagte er. „Erzählt, woher kommt Ihr?“
Lyah sah zu Farúnya hinüber. Sie erinnerte sich an ihr erstes – ernstes – Gespräch mit der Stute, vor so vielen Monaten. Das Einhorn hatte sie darauf hingewiesen, dass sie, Lyah, nicht jedem von ihrer Gabe erzählen sollte. Egal, in welcher Welt. Dieses Geheimnis konnte gefährlich werden.
Und natürlich verstand Farúnya Lyahs Zögern. Sie kam näher und sah Cedric an. Auch ohne Worte verstand er, dass es wichtig war, genau zuzuhören. Und anderen gegenüber Stillschweigen zu bewahren.
Farúnyas Stimme war leise. „Lyah ist eine Weltenteilerin.“
Das war alles?
„Farúnya...“
„Schon in Ordnung, Lyah, wir können ihm vertrauen. Ich kenne Cedric seit seiner Geburt. Und länger.“
„Länger? Wie meinst du das?“
„Du weißt, wie ich das meine.“
„Du meine Güte, Farúnya! Tu nicht immer so, als wüsste ich selbst die Antworten auf meine eigenen Fragen! Erkläre es mir doch mal, wenn ich...“
Lyah stutzte. Erst jetzt merkte sie, dass Cedric stand und sie anstarrte. Sein Blick verriet Verwirrung und... Ungläubigkeit?
Auch sie stand auf und stellte fest, dass er recht groß war.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie.
Cedric machte Anstalten, etwas zu sagen, aber er brachte kein Wort hervor.
Hilflos sah Lyah Farúnya an.
Die Stute wirkte... amüsiert. „Interessant, welch Schockzustand ein einziges Wort bei euch Menschen auslösen kann.“
„Lord Cedric?“
Lyah trat auf ihn zu, aber er wich zurück. Etwas verkrampfte sich in ihrem Magen und sie begegnete seinem fassungslosen Blick.
Es schienen Minuten zu vergehen, zumindest für Lyahs Empfinden, bis sich Cedric endlich wieder rührte.
Er räusperte sich. „Ihr... Die... Die Tracht Caestras kleidet Euch... sehr wohl, Mylady.“
Lyah errötete leicht, als sie begriff, was er meinte. Sie strich den blauen Stoff ihres Kleides glatt. „Taline sagte, dass meine Kleidung ziemlich zerrissen wäre, und so gab sie mir dieses Gewand. Es ist... ungewohnt, aber sehr bequem. Trotzdem schade um meine tolle Jeans und das Shirt. Es war ausgerechnet mein Lieblingsshirt.“
„Das tut mir sehr Leid“, erwiderte Cedric. „Ich werde veranlassen, dass man Euch ein neues anfertigt.“
„Das ist nicht nötig... Ich meine, das wird wohl kaum gehen, es war ein Unikat.“
„Oh.“ Cedric wirkte ehrlich betroffen.
Ihre Blicke trafen sich abermals und Lyah stellte fest, dass sich sein Schock offensichtlich wieder gelegt hatte. Stattdessen sah er sie wieder mit einem Blick an, den... nun ja, den sie schon einmal versucht hatte, zu ignorieren.
Und plötzlich dämmerte ihr etwas, das sie völlig vergessen hatte.
Sie schlug sich an die Stirn. „Oh nein!“
Cedric war alarmiert. „Was ist?“
„Wie spät ist es? Ich meine, wie lange habe ich... geschlafen?“
Cedric lächelte. „Da es nun schon seit über zwei Wochen nicht mehr dunkel geworden ist, kann man das so nicht sagen, aber der Uhrzeit nach habt Ihr die ganze Nacht durchgeschlafen. Jetzt ist es nach Mittag.“
„Oh nein!“, wiederholte Lyah und sah zu Farúnya. „Ich muss gehen.“
„Ich weiß.“
„Gehen?“ Cedric sah sie fragend an.
„Nach Hause. Meine Brüder machen sich schnell Sorgen um mich, vor allem, wenn ich nicht auffindbar bin. Und wenn ich nicht pünktlich zur Arbeit erscheine... Wenn Mrs Walters Leo anruft und nachfragt, warum ich nicht zur Arbeit komme, geraten alle noch in Panik.“
Cedric grinste. „Ihr werdet wohl gut behütet von Eurer Familie.“
Lyah zuckte die Schultern. „Na ja, Brüder eben.“
„Ich werde ein Pferd für Euch bereiten lassen.“
„Danke, aber das ist nicht nötig.“
Stirnrunzelnd sah Cedric sie an, dann Farúnya. „Ihr hattet keinen Scherz gemacht?“
Die Stute schnaubte kurz. „Natürlich nicht, Cedric, ich mache niemals Scherze. – Gute Reise, Weltenteilerin.“
„Ich komme bald wieder. Versprochen.“
Lyah wandte sich um, sah zum Zwergenhügel hinüber und schloss die Augen. Dann konzentrierte sie sich auf den Punkt in ihrem Inneren und tastete mit ihrem Geist nach dem Licht.
Cedric beobachtete sie genau. Er konnte es noch nicht so richtig begreifen, was Farúnya gesagt hatte. Lyah soll eine Weltenteilerin sein? Und gleich würde er sehen können, wie sie hinüberging.
Als nichts passierte, näherte er sich der Stute.
„Dauert das immer so lange?“, fragte er sie leise.
„Eigentlich nicht“, antwortete Farúnya. „Lyah?“
Lyah wandte sich zu ihnen um. Leichte Panik stand in ihren Augen. „Das Licht ist nicht da. Es ist weg. Ich kann das Portal nicht öffnen.“
Nachdenklich sah Cedric sie an – und erschrak im nächsten Moment, als Lyahs Nase zu bluten begann. Nur eine halbe Sekunde später brach sie zusammen.~ Ende Kapitel 2 ~
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Lady Rhanya- Mentor
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